Ein Papst spricht "urbi et orbi": als Bischof von Rom, aber auch als moralischer Führer an die Welt in ihrer Gesamtheit, an alle Glaubensrichtungen, den Säkularismus eingeschlossen. Und nirgendwo war dies bei Benedikt XVI. offensichtlicher als in einer bemerkenswerten Reihe von Ansprachen, die zeitlich relativ nah beieinander lagen: vor den Vereinten Nationen in New York, im Collège des Bernardins in Paris, in Westminster, aber vor allem bei den berühmten Reden während seiner Reise nach Regensburg und München sowie in seiner Ansprache an den Deutschen Bundestag.
Ratzinger zu lesen ist in gewisser Weise wie die Lektüre der Heiligen Schrift: Er ist für mehr als eine Interpretation offen. Das Folgende ist daher meine Interpretation, die keinerlei Anspruch darauf erhebt, dass sie die einzige - oder gar die beste - mögliche Interpretation sei. "Caveat Lector!" Meine Überlegungen zu Ratzingers maßgeblicher Arbeit über Jesus - eine wundervolle Zusammenschau des historischen Jesus und des Jesus des Glaubens - sowie seine kühne Behandlung der Beziehungen zwischen Christen und Juden behalte ich mir für eine andere Gelegenheit vor.
Säkulare Welt und Freiheit
Welches ist die allgemeine "bürgerliche Religion", zu der sich praktisch alle von uns Europäern bekennen? Gewiss ist es unser Glaube an die Notwendigkeit der freiheitlichen Demokratie als dem Rahmen, in dem sich unser öffentliches Leben abspielen sollte: Freie Wahlen mit allgemeinem Wahlrecht, Schutz der fundamentalen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit stellen die "heilige Dreieinigkeit" dieses bürgerlichen Glaubens dar. Die Religionsfreiheit ist wohl in jeder einzelnen europäischen Verfassung zu finden. Doch sie wird gemeinhin und mit Recht so verstanden, dass sie auch Freiheit von Religion einschließt.
Die Freiheit von Religion stellt jedoch eine Schwierigkeit für die liberale Theorie dar. Wir haben keine angemessene Vorstellung von einer Freiheit vom Sozialismus. Oder einer Freiheit vom Neoliberalismus. Wenn eine sozialistische Regierung demokratisch gewählt wird, erwarten wir eine Politik, die sich aus der sozialistischen Weltsicht ableitet und diese umsetzt. Und von uns wird erwartet - ob wir wollen oder nicht -, dass wir dies befolgen. Dasselbe würde etwa für eine neoliberale Regierung gelten. Doch wenn eine christliche Regierung gewählt wird, fände eine solche Regierung, wenn wir es mit der Freiheit von Religion ernst meinen, ihre Hände gebunden, wenn sie versuchte, Gesetze zu erlassen, die sich aus ihrer religiösen Weltsicht ableiten.
Einer der größten politischen Theoretiker des zwanzigsten Jahrhunderts, John Rawls, hat erklärt, dass unser demokratischer Diskurs, der über "Rechts" und "Links" hinausgeht, immer auf Gründen basieren muss, die sich aus der menschlichen Vernunft herleiten, deren Regeln alle ohne Bezug auf ideologische Bekenntnisse teilen können und die somit offen für Überzeugungsarbeit und Meinungswechsel sind. Religion, so sagte er (nicht abschätzig), basiert auf nicht vergleichbaren und nicht verhandelbaren, selbstbezüglichen, transzendentalen Wahrheiten. Und somit ist sie für die demokratische Arena ungeeignet.
Wir haben daher zwei Herausforderungen an einem entscheidenden Knotenpunkt unserer multikulturellen Gesellschaft, die sich aus weltlichen und religiösen Wählerschichten zusammensetzt:
Wahre Religionsfreiheit
Erstens: Wie kann die liberale Theorie eine Freiheit von Religion erklären und begründen? Natürlich gibt es viele Versuche, dies innerhalb eines liberalen Rahmens vernunftmäßig zu erklären. Ich finde keinen von ihnen wirklich überzeugend. Schließlich: Wenn ein Sozialist berechtigt ist, der Gesellschaft seine Weltsicht aufzuzwingen, warum sollte dasselbe einem Christen verwehrt werden?
Und zweitens: Welches ist der Anspruch religiöser Wählerschichten, am demokratischen Leben - als religiöse Menschen - teilzunehmen, wenn die religiöse Weltsicht nicht verhandelbaren, selbstbezüglichen, transzendentalen Wahrheiten verpflichtet ist? Und das ist sie schließlich.
Meiner Ansicht nach hat Benedikt in den Ansprachen bei seiner Reise nach Regensburg und München sowie im Bundestag die überzeugendsten Antworten auf diese beiden Herausforderungen gegeben.
Benedikt hat dazu beigetragen, das Zweite Vatikanische Konzil zu formen, und wurde von ihm geformt. Neben Johannes Paul II. pflegte Benedikt die Religionsfreiheit als die grundlegendste aller Freiheiten zu bezeichnen. In unserer im Allgemeinen weltlichen Kultur wurde dies typischerweise mit einem nachsichtigen Lächeln aufgenommen: "Welche Freiheit sollte ein Papst sonst wohl bevorzugen?", wurde diese Aussage in einem unternehmerischen Sinn gedeutet, als wäre der Papst eine Art Gewerkschaftsvorsitzender, der um die Bezüge seiner Mitglieder besorgt ist. Diesen Aspekt hinsichtlich der Religionsfreiheit gibt es natürlich und es ist nichts Ehrenrühriges daran, dass ein Hirte auf seine Herde achthat.
Was in dem ganzen Tumult, den die Äußerungen des Papstes in Regensburg über den Islam hervorgerufen hatten, bei weitem nicht genug beachtet wurde, war die Tatsache, dass die Religionsfreiheit, auf die der Papst sich bezog, die Freiheit von Religion einschloss: Die Freiheit, einer Religion nach eigener Entscheidung anzugehören oder überhaupt nicht religiös zu sein. Benedikt hat deutlich ausgesprochen und herausgearbeitet, was bereits Teil des Konzilsdokuments "Dignitatis humanae" war, was von Johannes Paul II. hervorgehoben wurde und auch Bestandteil des Lehramts von Papst Franziskus ist.
Nota bene: Seine Rechtfertigung und Verteidigung der Freiheit von Religion war kein Ausdruck liberaler Toleranz- und Freiheitsvorstellungen - oder eine Konzession an diese. Sie war Ausdruck einer zutiefst religiösen Aussage. "Wir drängen unseren Glauben niemandem auf: Diese Art von Proselytismus ist dem Christlichen zuwider. Der Glaube kann nur in Freiheit geschehen", unterwies der Papst seine Gläubigen und die ganze Welt in München. Somit findet sich im Kern der Religionsfreiheit die Freiheit, Nein zu Gott zu sagen!
Diese Freiheit muss natürlich eine äußere Dimension haben: Der Staat muss sie allen seinen Bürgern rechtlich garantieren. Doch nicht weniger wichtig ist - so wie ich Benedikt verstanden habe - die innere Freiheit. Wir Juden sagen: "Alles ist in Gottes Hand außer der Gottesfurcht." So hat Gott es gewollt: uns die Entscheidung zu überlassen. Wahre Religiosität, ein wahres Ja zu Gott, kann nur von einem Wesen kommen, das nicht nur die äußere sachliche Voraussetzung hat, sondern auch die innere geistliche Fähigkeit zu verstehen, dass die Entscheidung, die Verantwortung die unsere ist, einschließlich der, das göttliche Angebot zurückzuweisen und Nein zu sagen.
Benedikt hat somit die Freiheit von Religion zu einer theologischen Aussage gemacht. Das wiederum hat eine tiefe anthropologische Bedeutung. Religionsfreiheit betrifft die tiefste Vorstellung vom Menschen als einem autonom Handelnden mit der Fähigkeit zu einer moralischen Entscheidung, selbst angesichts seines Schöpfers. Wenn Judentum und Christentum die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen in Bündnisbegriffe "alt" und "neu" fassen, dann preisen sie diese zweifache Souveränität: die Souveränität des göttlichen Angebots und die Souveränität des Einzelnen, an den das Angebot ergeht.
Ich glaube, dass jeder Mensch, sei er gläubig oder nicht, Folgendes verstehen kann: Wenn man das Dasein eines allmächtigen Schöpfers akzeptiert und auf der der religiösen Aussage innewohnenden Freiheit besteht, Nein zu einem solchen Schöpfer zu sagen, wird dies wesentlich für das Verständnis unserer menschlichen Verfassung als moralisch Handelnde - verbunden mit Entscheidungen und der Verantwortung für solche Entscheidungen.
In diesem ursprünglichen Sinn sind Johannes Paul II. und Benedikt für den Primat der Religionsfreiheit eingetreten: Sie steht vertretend für die Ontologie des Menschseins - dessen, was es heißt, Mensch zu sein.
Man kann vielleicht noch einen Schritt weitergehen. Bezugnehmend auf Jakobus erklärt Benedikt in den Reden bei seiner Reise nach Regensburg und München (denen viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde), dass das "königliche Gesetz", das Gesetz von Gottes Königtum, zugleich das "Gesetz der Freiheit" sei. Das ist verwirrend: Wenn man in Ausübung einer solchen Freiheit das transzendentale "königliche Gesetz" akzeptiert, wie kann das eine tatsächliche Erweiterung der eigenen Freiheit darstellen? Bedeutet Gesetz nicht von seiner Natur her, die Einschränkung unserer Freiheit zu akzeptieren?
Ich verstehe Benedikts Worte so, dass ich, wenn ich außerhalb der Beschränkungen durch Gottes Gesetz handele, ein reiner Sklave meines Menschseins, meiner menschlichen Bedürfnisse werde. Gottes Gesetz als das "königliche Gesetz", das Gesetz dessen, der diese Welt transzendiert, anzunehmen heißt, meine innere Freiheit gegenüber jedem, der von dieser Welt ist, zu behaupten. Mit den Worten des heiligen Ambrosius: "Quam multos dominos habet qui unum refugerit!". Es gibt kein besseres Mittel gegen jede Form von Totalitarismus in dieser Welt.
Der Primat der Vernunft
Wie steht es dann um die Herausforderung, die sich aus Rawls Aussage ergibt? Nach meinem Verständnis der Ansprache vor dem Bundestag hat Benedikt die Prämisse von Rawls nicht zurückgewiesen: Der demokratische Diskurs, die Kompromissbereitschaft unseres öffentlichen Lebens, muss auf einem gemeinsamen Vernunftverständnis beruhen, das über ideologische Sparten wie Rechts und Links ebenso selbstverständlich hinausgeht, wie wir alle verstehen, dass zwei plus zwei vier sind. Ein solcher Diskurs kann nicht mit einem Gesprächspartner stattfinden, dessen Positionen auf nicht verhandelbaren, selbstbezüglichen, transzendenten Wahrheiten basieren.
Ohne ihn namentlich zu erwähnen hat Ratzinger nicht Rawls Prämisse, aber sein fehlerhaftes Verständnis des Christentums als irrig und falsch infrage gestellt.

Wenn der Christ - so erörterte Benedikt - in den öffentlichen Raum tritt, um Forderungen an die öffentliche Normativität zu stellen, die gesetzlich durchgesetzt werden können, dann stellt er solche Forderungen nicht, indem er sich auf die Offenbarung oder auf Glauben und Religion beruft, wenngleich diese damit in Übereinstimmung stehen können.
Es gehört, wie wir gesehen haben, zur christlichen Anthropologie, dass Menschen (vom Schöpfer) mit der Fähigkeit zur Vernunft ausgestattet sind, die der Menschheit gemein ist und die in der Tat die legitime Sprache der allgemeinen öffentlichen Normativität darstellt. Der Gehalt der christlichen Forderung innerhalb der öffentlichen Sphäre wird daher im Bereich der praktischen Vernunft liegen - Moral und Ethik, wie sie oft durch das Naturgesetz ausgedrückt werden. Wenn ich ein Beispiel anführen darf: Als Kain Abel tötete, hat er sich nicht umgedreht und sich mit den Worten an den Herrn gewandt: Du hast mir nie gesagt, dass es verboten ist, zu töten. Noch bringt der Leser der Schrift einen solchen Einwand vor. Es besteht Einvernehmen darüber, dass wir alle kraft der Erschaffung (für die Gläubigen nach dem Bild Gottes) die Fähigkeit besitzen, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden und dafür keiner öffentlichen Offenbarung bedürfen.
Auch dies ist keine Konzession an den Säkularismus. Es ist das zwangsläufige Resultat der religiösen Aussagen, die die Münchener Ansprache prägten. Eine ausschließlich auf religiöser Überzeugung und göttlicher Offenbarung beruhende öffentlich bindende Norm zu verabschieden, würde genau dieses tiefe, religiös begründete Bekenntnis zur Religionsfreiheit verletzen, nach der erzwungener Glaube im Widerspruch zum göttlichen Willen steht und diesem entgegengesetzt ist.
Es ist auch eine mutige Aussage. Einerseits stellt sie das Visum für das gleichberechtigte Eintreten des Christen in die normative öffentliche Sphäre dar. Gleichzeitig erlegt es der christlichen Glaubensgemeinschaft eine schwerwiegende und strenge Disziplin auf. Die Einschränkungen der Vernunft könnten dazu zwingen, moralische Positionen zu überdenken und bisherige Normen aufzuheben. Man hat nicht mehr den Joker in den Karten: "Das ist Gottes Gebot". Dies gehört nicht zur gemeinsamen allgemeinen Vernunft. Man könnte vernünftigerweise eine in der Vernunft verwurzelte Auseinandersetzung verlieren. Wenn man sich eine Sprache aneignet, muss man sie korrekt sprechen, um verstanden zu werden und zu überzeugen. Das gilt auch für die Sprache der Vernunft. München und Berlin liegen somit auf derselben Linie, sie basieren auf derselben Logik. Sie sind zwei Seiten derselben Münze.
Reduktion auf eine Ethik
Ich wende mich nun einer von mir als überwältigend erachteten Lehre zu, die sich ausdrücklich an die Gemeinschaft der Gläubigen richtet und entsprechend in den Ansprachen während der Reise nach München und Regensburg zu finden ist.
Die Verknüpfung zwischen allgemeiner Normativität und Vernunft ist bestechend und in mancher Hinsicht konstitutiv für die christliche Identität. Doch hier lauert eine Gefahr für den homo religiosus, die zum Nachdenken Anlass gibt: die Gefahr, die eigene Religiosität auf das Ethische zu reduzieren, so wichtig dieser Aspekt auch sein mag.
"Das Soziale und das Evangelium sind einfach nicht zu trennen", lautete eine zentrale Botschaft der Ansprachen. Das sind eindrucksvolle Worte und für mich ist die interessanteste Frage: Warum hielt der Papst es für notwendig, seine Herde daran zu erinnern, dass soziale Belange und das Evangelium nicht voneinander zu trennen sind?
Ich werde nun damit beginnen, diese Frage zu beantworten, mit der gebotenen Bescheidenheit und Zurückhaltung, die sich aus der Tatsache ergibt, dass ich, ein Außenseiter, auf das Thema einer Glaubensgemeinschaft übergreife, der ich nicht angehöre. Sollte ich mich irren, würde ich mich gerne eines Besseren belehren lassen.
Der Papst hat uns, religiöse Menschen im Allgemeinen und seine katholische Herde im Besonderen, vor der Gefahr gewarnt, zu meinen, dass die christliche Forderung an die öffentliche Normativität, die durch die für alle Menschen gültige Sprache der allgemeinen Vernunft zum Ausdruck kommt, die Bedeutung eines religiösen Lebens oder sogar der christlichen Normativität vollständig erfüllt.
Das "Soziale" als Ausdruck von Sitte und Moral ist von zentraler Bedeutung für die abrahamitischen Religionen, doch das "Soziale" allein bestimmt weder das religiöse Empfinden oder den Glaubensantrieb noch den religiösen Sinn. Schließlich hat die Religion kein Monopol über Sitte und Moral. Ein Atheist kann ein moralisch einwandfreies Leben führen und eine Sorge für das Soziale zeigen, die nicht weniger nobel ist als die von religiösen Menschen. Die entscheidende Kategorie, die keine Entsprechung, kein Pendant in einer säkularen Weltanschauung findet, ist die Heiligkeit. Die Religion nur auf ethisch-soziale Belange zu reduzieren, so wichtig diese auch sind, heißt die Bedeutung der Heiligkeit auf schwerwiegende Weise zu schmälern. Selbstverständlich ist Heiligkeit nicht von Sitte und Moral getrennt. Das Unsittliche und Unmoralische steht im Gegensatz zur Heiligkeit. Doch Heiligkeit erschöpft sich nicht im Sittlichen und Moralischen. Sie bedeutet mehr: der Liebe zum Göttlichen, Seiner Gegenwart in allen unseren Handlungen nah zu sein.
Lassen Sie mich auf eine berühmte Aussage zurückkommen, die sich sowohl im Alten als auch im Neuen Testament findet: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Sie erscheint zuerst in einer äußerst wichtigen Stelle im Buch Levitikus, die explizit über Heiligkeit spricht:
"Der Herr sprach zu Mose: Rede zur ganzen Gemeinde der Israeliten und sag zu ihnen: Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig" (Lev 19,1-2).
Wenn der Papst in seiner Ansprache mahnt: "Das Soziale und das Evangelium sind einfach nicht zu trennen", dann spiegelt dies direkt die Ausdrucksweise von Levitikus wider. Der berühmte Imperativ, der sich im selben Kapitel von Levitikus findet, lautet nicht einfach "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst", sondern "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr": Soziales und Evangelium sind nicht voneinander zu trennen.
Die Hinzufügung "Ich bin der Herr" zeigt an, dass die moralische Dimension für den gläubigen Menschen eine zusätzliche Dimension hat: sie ist auch eine Art und Weise, Gott zu lieben, sich einer Realität - der Heiligkeit - zu nähern, die über unser einfaches Menschsein hinausgeht.
Ich möchte ergänzen und darauf insistieren: dieser "Zusatzwert", die Heiligkeit, macht uns, die Glaubensgemeinschaft, nicht besser als andere. Sie macht uns andersartig.
Ich möchte noch weiter gehen. Es ist klar, dass der Imperativ der Liebe eine Norm ist, die über das Naturgesetz hinausgeht. Niemandem würde es im Traum einfallen, so etwas als Gesetz zu erlassen. Es ist eine Regel des Herzens, die weit über die "normale" Ethik hinausgeht, wie es im Matthäusevangelium trefflich zum Ausdruck kommt: "Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm" (Mt 5,41).
In meinen Augen ist signifikant, warum diese Lehre in seiner Predigt während der Eucharistiefeier vorgetragen wurde. Wie ich es verstehe, sind die Sakramente, die Messe einschließlich der Eucharistie, Gebet und andere ähnliche Praktiken, eine Weise, auf welche die Kirche ihre Liebe, ihre Treue und ihre Nähe zum Herrn zum Ausdruck bringt, welche die Nähe, die durch biblisch bestimmtes sittliches Handeln erreicht wird, bereichert. Beide gehören zur Ontologie des Homo religiosus.
Mehr als Moral: Heiligkeit
Der Nachdruck auf diese Verknüpfung in den Worten des Papstes birgt eine bemerkenswerte historische Ironie. In der Zeit der Propheten, so wie Amos und Jesaja, und als Jesus seine Botschaft verkündete, mussten die Gläubigen ermahnt und daran erinnert werden, dass Glaube und Heiligkeit nicht allein durch den Ritus und das Sakramentale - wie wichtig diese auch seien - erlangt werden und sich darin erschöpfen könnten. Heute hat sich das Zünglein an der Waage gedreht und die Gläubigen müssen daran erinnert werden, dass der Reichtum des religiösen Sinns sich nicht einfach darin erschöpft, ein moralisch einwandfreies und sozial engagiertes Leben zu führen. Ein moralisch einwandfreies Leben zu führen ist eine notwendige Voraussetzung, aber gewiss nicht ausreichend. Darin kann sich eindeutig nicht erschöpfen, was es heißt, ein Christ zu sein. Es muss durch eine Beziehung zum Göttlichen ergänzt werden, durch Gebet, durch die Sakramente, dadurch, dass man die Hand des Schöpfers in der Welt sieht, die Er erschaffen hat. Die Heiligkeit auf diese zweifache Weise suchen - das lese ich aus der Predigt des Papstes heraus.
Es gehört zur Moderne, dass viele der heutigen Gläubigen durch das Evangelium, durch die Forderungen, das Vokabular und die Praktiken, welche die sakramentalen Aspekte ihrer Religion und ihres Glaubens zum Ausdruck bringen, nahezu in Verlegenheit gebracht werden. Sie erscheinen - und das ist der Gipfel der Ironie - als "unvernünftig". Versuchen Sie das einmal dem Aquinaten oder Augustinus zu sagen! Und dieses Phänomen ist unter allen Kindern Jakobs/Israels weit verbreitet.
Der Prophet Micha predigte: "Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott" (Mi 6,8). In Ehrfurcht den Weg gehen, nicht im Verborgenen.
Es ist daher mehr als von symbolischer Bedeutung, dass dieser Teil der Ansprachen während der Reise nach Regensburg und München im katholischen Kontext eine Eucharistiefeier war und dass der Papst gerade in dem Moment, in dem er die Bedeutung sozialer Fürsorge und menschlicher Solidarität hervorhebt, in einem sakramentalen Kontext, in den diese soziale Fürsorge eingebettet sein muss, auf dem Evangelium besteht. Bei aller Bedeutung des Naturgesetzes gibt es einen weiten Bereich der Wohltätigkeit, der Fürsorge, der Nächstenliebe, der sich aus dem besonderen christlichen Narrativ ableitet und Teil christlicher Normativität - was es heißt, ein Christ zu sein - ist, der jedoch als Bestandteil einer allgemein verpflichtenden Normativität nicht angemessen wäre. Wenn ich Benedikts Gesinnung in den Ansprachen richtig verstehe, führt der Christ hier durch Vorbild, durch Zeugnis, nicht durch Zwang.
Ich möchte mit einer persönlichen Bemerkung enden. Ich hatte das Privileg, Papst Benedikt bei drei Anlässen begegnen zu dürfen: einmal im Jahr 2013, kurz vor seinem Rücktritt - ein relativ kurzes Treffen, bei dem ich ihm zwei meiner Töchter vorstellte. Das zweite Mal ein paar Jahre später, als ich auf seine Bitte hin (und zu meiner Überraschung, da ich nie in einem formalen Sinn sein Schüler gewesen bin) eingeladen wurde, den Hauptvortrag vor dem berühmten Ratzinger-Schülerkreis zu halten und dann die pure Freude eines einstündigen Einzelgesprächs hatte - reine Theologie. Und schließlich vor einem Monat mit den Patres Michel Fédou und Federico Lombardi sowie Erzbischof Georg Gänswein aus Anlass der Verleihung des Ratzinger-Preises 2022. Solches sind Begegnungen, die sich einem auf unauslöschliche Weise einprägen. Seine Abschiedsworte waren vielsagend und bewegend: "Bitte empfehlen Sie mich Ihren Töchtern."
Aus dem Englischen von Claudia Reimüller
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