Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Papstkatechesen zum Gebetsjahr 2024

Franziskus: „Der Psalter ist eine großartige Schule“

Die Katechesen von Papst Franziskus über das Beten aus dem Jahr 2020 – Folge 11: Die Psalmen zeigen das Gebet als die grundlegende Wirklichkeit des Lebens.
Papst Franziskus über das Psalmengebet
| „Die vielfältigen Ausdrucksformen des Psalmengebetes nehmen zugleich in der gemeinsamen Liturgie des Tempels und im Herzen des einzelnen Menschen Gestalt an“, zitiert der Papst aus dem Katechismus.

Wir schließen heute die Katechese über das Psalmengebet ab. Zunächst sehen wir, dass in den Psalmen oft eine negative Gestalt erscheint, die des „Frevlers“: also jenes Menschen – Mann oder Frau –, der so lebt, als gäbe es Gott nicht. Es ist der Mensch ohne jeden Bezug zur Transzendenz, der seine Arroganz nicht zügelt, der über das, was er denkt und was er tut, kein Urteil fürchtet. Aus diesem Grund präsentiert uns der Psalter das Gebet als die grundlegende Wirklichkeit des Lebens.

Lesen Sie auch:

Der Bezug auf das Absolute und Transzendente hin – die Lehrer des geistlichen Lebens sprechen von der „Ehrfurcht vor Gott“ – ist das, was uns wirklich menschlich macht, ist die Grenze, die uns vor uns selbst rettet und verhindert, dass wir uns räuberisch und gierig auf dieses Leben stürzen. Das Gebet ist die Rettung des Menschen.

Richtiges und falsches Beten

Gewiss gibt es auch ein falsches Gebet, ein Gebet, das nur dazu dient, von den anderen bewundert zu werden. Wer nur zur Messe geht, um zu zeigen, dass er katholisch ist, oder um das neueste Modell zu präsentieren, das er erworben hat, oder um gesellschaftlich einen guten Eindruck zu machen, der geht zu einem falschen Gebet. Jesus hat nachdrücklich davor gewarnt (vgl. Mt 6, 5–6; Lk 9, 14).

Wenn jedoch der wahre Geist des Gebets aufrichtig angenommen wird und in das Herz einzieht, dann lässt es uns die Wirklichkeit mit Gottes Augen betrachten. Wenn man betet, bekommt alles „Tiefgang“. Das ist interessant beim Gebet: Vielleicht beginnen wir mit etwas Geringem, aber im Gebet bekommt es Tiefgang, bekommt es Gewicht, so, als würde Gott es in die Hand nehmen und verwandeln. Der schlechteste Dienst, den man Gott und auch dem Menschen erweisen kann, ist es, müde zu beten, aus reiner Gewohnheit. Beten wie die Papageien. Nein, man betet mit dem Herzen.

Gebet weckt Verantwortungsbewusstsein

Das Gebet ist der Mittelpunkt des Lebens. Wenn das Gebet da ist, dann wird auch der Bruder, die Schwester, sogar der Feind wichtig. Ein alter Spruch der ersten christlichen Mönche lautet so: „Selig der Mönch, der – nach Gott – alle Menschen wie Gott betrachtet“ (Evagrius Ponticus, Über das Gebet, Nr. 123).

Wer Gott anbetet, liebt seine Kinder. Wer Gott achtet, achtet die Menschen. Darum ist das Gebet kein Beruhigungsmittel, um die Ängste des Lebens zu lindern; oder zumindest ist ein solches Gebet gewiss nicht christlich. Das Gebet weckt vielmehr das Verantwortungsbewusstsein eines jeden von uns. Das sehen wir deutlich im „Vaterunser“, das Jesus seine Jünger gelehrt hat. Der Psalter ist eine großartige Schule, wenn man lernen will, so zu beten.

Narben des Lebens in den Psalmen

Wir haben gesehen, dass die Psalmen nicht immer kultivierte und freundliche Worte benutzen und dass sie oft die Narben des Lebens tragen. Dennoch sind diese Gebete zunächst im Tempel von Jerusalem und dann in den Synagogen benutzt worden; auch die innerlichsten und persönlichsten. Der Katechismus der Kirche bringt es so zum Ausdruck: „Die vielfältigen Ausdrucksformen des Psalmengebetes nehmen zugleich in der gemeinsamen Liturgie des Tempels und im Herzen des einzelnen Menschen Gestalt an“ (Nr. 2588).

Und so schöpft und nährt sich das persönliche Gebet aus dem Gebet, das zunächst das des Volkes Israel und dann das des Kirchenvolkes ist. Auch die Psalmen in der ersten Person Singular, die uns die innersten Gedanken und Probleme eines Individuums anvertrauen, sind kollektives Eigentum und werden sogar von allen und für alle gebetet. Das Gebet der Christen hat diesen „Atem“, diese geistliche „Spannung“, die den Tempel und die Welt zusammenhält.

Im Gebet des Psalters ist die Welt gegenwärtig

Das Gebet kann im Halbdunkel eines Kirchenschiffs beginnen, aber dann endet es seinen Lauf auf den Straßen der Stadt. Und umgekehrt kann es im täglichen Tun aufkeimen und in der Liturgie seine Erfüllung finden. Die Kirchentüren sind keine Barrieren, sondern durchlässige „Membranen“, die bereit sind, die Klage aller Menschen aufzunehmen. Im Gebet des Psalters ist die Welt stets gegenwärtig.

Lesen Sie auch:

Die Psalmen geben zum Beispiel der göttlichen Verheißung des Heils der Schwächeren eine Stimme: „Wegen der Unterdrückung der Schwachen, wegen des Stöhnens der Armen stehe ich jetzt auf, spricht der Herr, ich bringe Rettung dem, gegen den man wütet“ (12, 6). Oder sie warnen vor der Gefahr der weltlichen Reichtümer, denn „der Mensch in Pracht, doch ohne Einsicht, er gleicht dem Vieh, das verstummt“ (49, 21).

Oder sie öffnen den Horizont auf den Blick Gottes auf die Geschichte: „Der Herr vereitelte den Ratschluss der Nationen, er machte die Pläne der Völker zunichte. Der Ratschluss des Herrn bleibt ewig bestehen, die Pläne seines Herzens durch alle Geschlechter“ (33, 10–11). Kurz gesagt, wo Gott ist, dort muss auch der Mensch sein.

Gott wartet immer auf den Menschen

Die Heilige Schrift ist kategorisch: „Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.“ Er geht uns immer voran. Er wartet immer auf uns, weil er uns als Erster liebt und als Erster anschaut, uns als Erster versteht. Er wartet immer auf uns. „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.“

Wenn du täglich viele Rosenkränze betest, aber dann über die anderen klatschst und Groll in dir trägst, Hass gegen die anderen hegst, dann ist das reine Affektiertheit, es ist keine Wahrheit. „Und dieses Gebot haben wir von ihm: Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben“ (1 Joh 4, 19–21).

Praktischer Atheimsus

Die Heilige Schrift lässt zu, dass ein Mensch Gott zwar aufrichtig sucht, ihm jedoch nie begegnet; aber sie sagt auch, dass man nie die Tränen der Armen verleugnen darf, denn sonst kann man Gott nicht begegnen. Gott duldet nicht den „Atheismus“ dessen, der das göttliche Abbild leugnet, das in jedem Menschen eingeprägt ist. Jener alltägliche Atheismus: Ich glaube an Gott, aber zu den anderen halte ich Abstand, und ich erlaube mir, die anderen zu hassen. Das ist praktischer Atheismus.

Den Menschen nicht als Abbild Gottes zu erkennen ist eine Gotteslästerung, ist ein Gräuel, ist die schlimmste Beleidigung, die man dem Tempel und dem Altar zufügen kann. Liebe Brüder und Schwestern, das Psalmengebet möge uns helfen, nicht in die Versuchung der „Gottlosigkeit“ zu geraten – also so zu leben und vielleicht auch zu beten, als gäbe es Gott nicht und als gäbe es die Armen nicht.

Gehalten am 21. Oktober 2020

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Papst Franziskus Bibel Katechese Katechese Gebet Katechismus Papst Franziskus Vaterunser

Weitere Artikel

Gott ist gerade in dunklen Zeiten da - und bietet uns an, dass er uns ändert, so Papst Franziskus bei seinen Gebetskatechesen von 2020 bis 2021.
10.03.2024, 19 Uhr
Papst Franziskus

Kirche

Polemik, Intransparenz und rechtsfreie Räume konterkarieren das Ideal der bischöflichen Communio.
02.05.2024, 21 Uhr
Regina Einig
2003 sprach Papst Johannes Paul II. einen Priester heilig, durch dessen geistliche Schule viele der Märtyrer gegangen waren: José María Rubio.
02.05.2024, 11 Uhr
Claudia Kock