Volkstümlichkeit und Gelehrsamkeit sind Attribute, die Spaniens Katholiken mit dem Pontifikat Benedikts XVI. verbinden. Der Papst aus Bayern besuchte Spanien während seiner Amtszeit drei Mal und feierte 2011 einen spektakulären Weltjugendtag in Madrid, der sich als Initialzündung für zahlreiche geistliche Berufungen erwies. Zudem pflegte er beste Kontakte zur Spanischen Bischofskonferenz. Sieben Bände seines Gesamtwerks sind inzwischen ins Spanische übersetzt worden.
Mittlerweile scheint die katholische Kirche auf der iberischen Halbinsel alle weltanschaulichen Konflikte mit dem Staat und der sich radikal säkularisierenden Gesellschaft verloren zu haben. Gleichwohl schwelgten die Teilnehmer des Kongresses, der Ende Oktober zu Ehren des 95. Geburtstags von Benedikt XVI. in der Madrider Universität San Pablo stattfand, nicht in Nostalgie: Bei der sehr gut besuchten zweitägigen Veranstaltung trat die Wertschätzung und Dankbarkeit, die insbesondere einfache Gläubige für das Erbe des bayerischen Papstes empfinden, noch einmal deutlich zutage.
Ein Rollentausch
Für akademisches Fluidum sorgte ein deutsch-spanischer Referentenkreis. Prälat Markus Graulich SDB, Untersekretär des Dikasteriums für die Gesetzestexte, beschrieb den emeritierten Pontifex als einen Mann Gottes, der „Theologie auf den Knien“ betrieben habe. In einer Welt, in der Gott zunehmend in Vergessenheit gerät, bietet gerade die klare Ausrichtung der Theologie Joseph Ratzingers auf Christus Orientierung. Der Madrider Historiker Alberto Bárcena Pérez beschrieb den revolutionären Prozess der nachkonziliaren Jahrzehnte als Rollentausch: Der Mensch habe sich selbst an der Stelle Gottes ins Zentrum des Universums gerückt.

José Granados, Herausgeber und Übersetzer der spanischen Ausgabe des Gesamtwerks von Benedikt XVI., zog einen Vergleich zwischen der Amtszeit des bayerischen Papstes und der arianischen Krise des vierten Jahrhunderts. Damals war ein Streit darüber entbrannt, ob Jesus Christus Gott, gottähnlich oder lediglich geschöpflich sei. Auch heute sei ein geistiger Kampf um die Bedeutung Jesu Christi entbrannt. Ratzinger, so Granados, setze einen Gegenakzent zu Bestrebungen in Theologenkreisen, die die Gottheit Jesu abwerteten und warne vor einer Kirche, die zu sehr um sich selbst kreise. Dies sei dem Papst in einer klaren, allen Bevölkerungsschichten zugänglichen Sprache gelungen.
Freiheit und der Wille Gottes

Mit seinen theologischen Reflexionen zum Freiheitsbegriff hat Joseph Ratzinger zweifellos den neuralgischen Punkt der Spaßgesellschaft getroffen. Der emeritierte Oberhirte von Alcalá de Henares, Bischof Juan Antonio Reig Pla, wies auf das differenzierte Freiheitsverständnis Benedikts hin: Freiheit und der Wille Gottes gehörten für den Papst zusammen. Der Dogmatiker Ralph Weimann ergänzte Reig Plas Ausführungen und hob die Rolle Benedikts als Verteidiger der Wahrheit und Streiter gegen die Diktatur des Relativismus hervor. In dieser Rolle überzeugte Joseph Ratzinger aus Sicht der vormaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Müller, auch im ökumenischen Dialog. Mit der Erklärung „Dominus Iesus“ über die Einzigkeit und Heilsuniversalität der Jesu Christi und der Kirche aus dem Jahr 2000 habe sich die Glaubenskongregation unter ihrem damaligen Präfekten Kardinal Ratzinger einem ekklesiologischen Pluralismus widersetzt, der Müller zufolge „die katastrophale Folge der unklaren Vorstellungen über die Person Jesu“ darstelle.
Wie dringend eine Relecture der Werke Ratzingers in Zeiten des Synodalen Wegs gerade in Deutschland geboten ist, unterstrich Bischof José Ignacio Munilla von Alicante. Offen äußerte er Bedenken gegenüber dem in deutschen Synodalkreisen favorisierten Offenbarungsbegriff, der den Zeichen der Zeit eine aus seiner Sicht falsche Bedeutung zumesse.
Krise lässt ihn nicht kalt
Dass die Krise und der Zusammenbruch des Glaubens in Westeuropa den Papst nicht kalt lassen, ließ dessen per Zoom zugeschalteter Biograf Peter Seewald durchblicken: Bei einer Begegnung mit Benedikt XVI. vor zwei Wochen habe er den Eindruck gewonnen, dieser sei ein sehr leidender Mensch geworden: „Er leidet still“. Joseph Ratzinger sei „eine der meistverkannten Persönlichkeiten unserer Zeit“, stellte der Autor der offiziellen Biografie über den emeritierten Papst fest. Er sei in Wahrheit kein Reaktionär, sondern ein Reformer und Erneuerer des Glaubens. Den immer wieder geäußerten Vorwurf, Ratzinger habe sich von einem progressiven zu einem reaktionären Theologen gewandelt, wies Seewald entschieden zurück: „Es hat diese Wende bei Ratzinger nie gegeben“. Den Reformbegriff Ratzingers definierte er das Zeugnis des Glaubens des Glaubens in die Dunkelheit unserer Zeit zu bringen“. In der „Einführung in das Christentum“ von 1968 spreche derselbe Ratzinger wie im Jahr 2020. Ihn, Seewald, habe es als vormaligen Atheisten sehr bewegt, dass Joseph Ratzinger von der Entfremdung des Menschen von seinem Schöpfer spreche.
Seewald hob hervor, dass Benedikt XVI. das Papstamt modernisiert habe. Es habe ihm die Kraft gefehlt, das Amt weiter auszuüben. Natürlich könne man fragen, was geschehen wäre, wenn Benedikt XVI. nicht zurückgetreten wäre: „Franziskus wäre nicht gewählt worden. Es hätte einen anderen Nachfolger gegeben; der Papst hätte vielleicht auch seine klare Linie weiter beibehalten können. Vielleicht hätte in Deutschland kein Synodaler Weg in dieser Form stattgefunden. Dann wäre der Kurs des Vatikans klar gewesen.“ Auch wenn dies Spekulationen seien, lasse sich sagen, dass man von Papst Benedikt noch sehr viel für die Zukunft haben werde. „Dieser Papst wird nicht vergessen werden können“. Auf Seewalds Frage, warum er nicht sterben könne, habe der 95-Jährige geantwortet, er müsse noch ein Zeugnis für die Welt sein.
Zurück in die Kirche
Benedikts Vision einer Reform der Liturgiereform blieb in den Beiträgen ausgespart. Anders als in Frankreich oder den USA, wo die „alte Messe“ junge Messbesucher in Scharen anzieht, hat das Motu proprio „Summorum pontificum“ aus dem Jahr 2007 auf der iberischen Halbinsel eine überschaubare Strahlkraft entfaltet. Benedikt gilt in Spanien vielmehr als ein Papst, der Würde und Ehrfurcht durch seinen liturgischen Stil schon in der erneuerten Liturgie vorbildlich vorlebte: Spontaner Applaus brandete im Publikum auf die Frage einer Kongressteilnehmerin hin auf, warum der emeritierte Papst nicht ins Hochgebet eingeschlossen werde.
In der Podiumsdiskussion beleuchteten die Teilnehmer die Rolle der Christen als kreative Minderheit. Bischof Reig Pla gab zu bedenken, dass diese Rolle kein Rückzugsgefecht sei und ermutigte die Gläubigen dazu, die Politik mitzugestalten: „Ohne eine gerechte Gesellschaft sei es sehr schwierig, das christliche Leben aufrechtzuerhalten“, unterstrich er unter Ovationen des Publikums. Dabei sei Benedikts klare Abgrenzung des Glaubenssinns der Gläubigen vom gesellschaftlichen Konsens hilfreich. Auch sein Mitbruder aus Alicante wies auf hoffnungsvolle Zeichen hin: Etwa sechzig Prozent der Zuschriften, die Radio Maria in Spanien erhalte, stammten von Neubekehrten oder Gläubigen, sich jahrzehntelang von der Kirche entfernt hatten und nun wieder zurückgefunden hätten. Er selbst sei oft als Beichtvater sehr bewegt von Glaubenszeugnissen seiner Beichtkinder.
Verirrte Herde

Kardinal Müller beklagte die ideologische Instrumentalisierung des „Konzilsgeistes“: Keine Kirche, die sich des Kreuzes Christi schäme, werde die verirrte Herde auf die Weide Christi zurückführen. Auf die Frage, ob von Deutschland wieder eine Kirchenspaltung ausgehen könne, zeigte sich der Kardinal zuversichtlich: Er sei überzeugt, dass der Papst eine klare Ansage an die deutschen Bischöfe richten und diese gehorchen würden“. Das wäre zumindest eine angemessene Antwort auf den Dienst des bayerischen Papstes, der – darin stimmten alle Diskussionsteilnehmer überein – sein Petrusamt in erster Linie als Stärkung im Glauben verstanden habe.
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