Als im April 2005 der damalige Präfekt der Glaubenskongregation Joseph Kardinal Ratzinger zum Papst gewählt wurde, verband sich mit dem aufsteigenden Weißen Rauch ein starkes Aufbruchssignal, das über die katholische Kirche hinausreichte und dem sich selbst der deutsche Katholizismus nicht ganz entziehen konnte, bei allem antirömischen Affekt. Die „BILD“-Zeitung instrumentierte die Begeisterung bekanntlich mit der Schlagzeile „Wir sind Papst!“
Als Mann des Geistes, nicht der äußerlichen administrativen Reformerwartungen, einer hohen Intellektualität in Verbindung mit einem ebenso eindrucksvollen tiefen und schlicht elementaren Glauben, schien der Papst endgültig zu einer unhintergehbaren bedeutsamen Stimme in der Öffentlichkeit zu werden, die auch in der säkularen Welt Beachtung fand. Ratzinger, der „Mozart der Theologie“, einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts nahm auf der Cathedra Petri Platz: Ein einziger seiner Art. Die Debatte mit Jürgen Habermas im Jahr vor der Wahl in der Katholischen Akademie in Bayern trug zum öffentlichen Profil ebenso bei, wie eine Reihe von Signalen in den Anfangswochen, unter anderem die Begegnung mit Hans Küng und Exponenten der säkularen, atheistischen Kultursphäre. Die fulminante erste Enzyklika „Deus caritas est“ schlug den Grundakkord der Herzmitte christlichen Glaubens an, dass Gott nur als Liebe begriffen werden kann.
„Ein schlichter Arbeiter im Weinberg des Herrn“
Eine neue unerhörte Leichtigkeit prägte die ersten Auftritte, Reisen und Ansprachen des Papstes nach seiner Wahl. Dass der Geist des Christentums auf das wandernde Gottesvolk in der Zeit verweist, dass Relativismus und Dekonstruktion nicht die letzte und alleinige Perspektive sein mussten, brachte dieser Papst in der Anfangszeit sprachmächtig und differenziert zum Ausdruck. Gewiss: der große Kommunikator wie sein Vorgänger war er nicht. Die epochale Kraft des Karol Wojtyla versuchte Ratzinger auch nicht zu imitieren: Ein schlichter Arbeiter im Weinberg des Herrn wollte er sein, so seine ersten Worte als neu gewählter Papst. Die Töne waren subtil und sublim und wurden doch gehört. Biographisch gewann Ratzinger als Papst eine neue, unerhörte Leichtigkeit.
Die nachfolgenden Enzykliken entfalteten wie eine Inititation das Dreigestirn von Glaube, Liebe und Hoffnung. Die endlosen Girlanden der Konsens- und Kompromisspapiere der Evangelischen Teil- und Gliedkirchen, denen es nie gelingt, den Punkt zu setzen, nahmen sich gegenüber den Worten dieses Papstes noch blasser und „religiös unmusikalischer“ aus.
„Der alte Papst wird von Pseudomoralisten der Lüge beschuldigt,
dies ist schlechtes, farcehaftes absurdes Theater.
In den irdischen Dingen können jene Kohorten sich vielleicht durchsetzen.
Wie die Dinge liegen, vielleicht sogar in der kirchlichen Zeitgeschichte“
Wie der junge Joseph Ratzinger in Bonn, Münster und Tübingen seine Hörer fasziniert hatte, wurde an dem fast Achtzigjährigen wieder fass- und begreifbar. Fast als liege die Zäsur von 1968 nicht wirklich als ernsthafter Bruch dazwischen. Ein kluger Kommentator schrieb über ihn „Prof. Dr. Papst“. Nie im schrecklichen 20. Jahrhundert, dessen Dauerapokalypse im beginnenden 21. sich multipolar fortsetzt, war ein Mensch des Geistes derart in der Öffentlichkeit präsent. Dies erschien nicht nur mir wie ein „Geschichtszeichen“ der Hoffnung. Faszinierend schon, auch gegenüber dem grobschlächtigen Gegensatz „heißer“ und „kalter“ Religionen, war das durch Ratzinger erneut präsent gemachte Lebensthema von Glaube und Vernunft, „Fides et ratio“. Die Regensburger Rede im September 2006 profilierte in einer grundlegenden Weise den Zusammenhang. In der Rezeption begegneten freilich bereits die Verzeichnungen und Böswilligkeiten, die Fixierung auf das Zitat des byzantinischen Kaisers Manuel Palaiologos und die Insinuierung, Ratzinger hätte „den Islam“ schmähen wollen.
Ratzingers Pontifikat strahlte durchgängig den engen Zusammenhang von Schönheit und Wahrheit aus, nicht nur in propositionaler Satzform, sondern in Haltung und Vollzug. Die Liturgien, die er feierte, waren zur Sicht- und Hörbarkeit gebrachte Theologie und gelebter Glaube. Wenig bemerkt, tat er auf große Machtepitheta des Papstamtes Verzicht, wie den Titel des „Pontifex Maximus“. Ökumene verstand er aus gutem Grund weniger im Horizont des selbstsäkularisierten Protestantismus, sondern im Verhältnis zu den Johanneischen Kirchen des Ostens. Dieser Papst war bei allem Sinn für Stil und Tradition nie Vertreter einer Kirche in der Nachfolge des Imperium Romanum, sondern der vollen Katholizität, der sichtbaren und unsichtbaren Kirche.
Er ist die Ausnahmeerscheinung
Ratzinger erwies sich, schon als Präfekt der Glaubenskongregation, mehr noch als Papst als große Ausnahmeerscheinung. Durch seine brillante Intellektualität, dadurch, dass er den ad fontes gerichteten Geist des Zweiten Vatikanums, eine „Reformatio“, die sich gegen die Deformationen wendete, überzeugend vertrat, hielt Ratzinger die Mitte zwischen strukturkonservativem Traditionalismus und einem Modernismus des „Hans im Glück“. Romano Guardini und Henri de Lubac stand er gleichermaßen nahe, dem originär mystischen Christentum eines Bonaventura war sein Denken verwandt, mit den starren Systemen des Neuthomismus hatte er schon als junger Theologe nichts zu tun. Die griechische Vätertheologie war bei ihm ebenso gegenwärtig wie die lateinische Erneuerung,
Hugo von Hofmannsthals von Hans Urs von Balthasar hochgeschätztes Wort, dass wenn der Himmel durchlässig wird, die Sterne mit zum Fest kommen, könnte ein Lebensmotto Ratzinger sein: Des Papstes, der mit den himmlischen Hierarchien auch im Geist Guardinis die Liturgie feierte und intellektuell mit dem Florett focht.
Beeindruckende Reden im Bundestag und in Freiburg
Ein großes kontrafaktisches Signal ging von Benedikts Rede im Deutschen Bundestag im Herbst 2011 aus, und ein noch eindrücklicheres setzte er mit der unverstandenen Freiburger Rede wenige Tage später und dem kraftvollen Plädoyer für eine „Entweltlichung der Kirche“: das mystische und monastische Christentum, die Signatur der Bergpredigt waren hier spürbar. Eine Haltung, die aus der Welt herausrief.
Es war ein Glücksfall, dass in einer Welt der Jelzins, Sarkozys und Berlusconis dieser Papst auch die politische Agenda mit bestimmte, der noch einmal ganz Europäer war, der Jerusalem und Athen in ihrer Spannung zusammendachte, und eine kosmopolitische Weite hatte, zugleich aber in seiner bayrischen Heimat und ihrer Frömmigkeit wurzelte.
In die Abgründe und Sümpfe kurialer Intrigen gezogen
Eine tiefe Tragik war es, dass dieser herausragende Geist immer tiefer in die Abgründe und Sümpfe kurialer Intrigen gezogen wurde. Er selbst hatte all dies schon lange vorausgesagt. Die Erkenntnis, dass der Antichrist gerade in der Kirche tobte, war so neu nicht. Benedikt XVI. hatte sie als Papst in der Kreuzwegmeditation 2005 eindrucksvoll formuliert, in der Folge John Henry Newmans und im Horizont der Alten Kirche. Sie bestätigte sich in der Folgezeit geradezu unheimlich an ihm selbst.
Der diebisch korrupte Kammerdiener bedeutete nur eine Episode, farcehafte Zerstörung der Strahlkraft des Pontifikates. Wenn Papst Benedikt XVI. scheiterte, dann regelmäßig an Formen der Niedertracht.
Die Kraft seines Pontifikats soll ungeschehen werden
Der Rücktritt im Februar 2013 war eine konsequente Folge, ein revolutionärer Akt der Unterscheidung von Person und Amt, der denen, die lesen konnten und dazu bereit waren, zeige, wie das Papsttum einen neuen Metamorphoseschritt ging, von einer Kraft, die alle Synodalen Prozesse weit in den Schatten stellt. Spätestens damit hatte Ratzinger ein historisches Profil gewonnen. Die Stille und Präsenz der Folgejahre bis ins Schweigen des höchsten Alters (kein Papst erreichte diese Zahl an Jahren) trug zu seiner Signatur Wesentliches bei.
Im deutschen akademischen und Verbandskatholizismus, der am deplorablen, symbollosen Zustand des Protestantismus ein Maß nahm, hatte das Ratzinger-Bashing immer schon einen Resonanzraum. Nun tritt es wieder offen zutage.
Der niederträchtige Versuch, Ratzinger zum Sündenbock zu machen
Unstrittig ist sexueller Missbrauch, von wem auch immer und durch geweihte Priester und kirchliche Amtsträger erst recht, ein unentschuldbarer Akt der Zerstörung von jungen Seelen. Dass man Ratzinger zum Sündenbock für diese Verbrechen machen möchte, ist von besonderer Niederträchtigkeit, antichristliche Maskerade von Scheinheiligen. Es ist hinreichend dokumentiert, wie Joseph Ratzinger solchen Missbrauchsfällen in allen seinen Wirkungskreisen skrupulös nachging und schon früh einen sehr klaren Kurs verfolgte. Gewiss nicht ohne Mängel und Zeitkolorit, aber in der Haltung von größter Eindeutigkeit.
Was in den letzten Wochen auf den emeritieren Papst hereinbricht, zeigt, wie groß und wie lange vorbereitet der Wunsch nach Revanche war. Wofür eigentlich? Für die Kraft, meta-modern alte Quellen wieder zu eröffnen, und nicht nur Zeitbürger der eigenen Zeit zu sein. Revanche für den Splendor veritatis, den er wie kein zeitgenössischer Theologe verkörperte. Auch in Teilen des deutschen Episkopats und unter den Vertretern des Synodalen Wegs ist diese lauernde Tendenz aufgebrochen. Ratzingers Ruf und Lebenswerk, die große Strahlkraft seines Pontifikates sollen ungeschehen gemacht werden. All dies hat Züge einer „damnatio memoriae“. Viele, die jetzt die Rostra besteigen, wollen Richter sein, die Wirklichkeit tribunalisieren. Im evangelischen Geist, den seine wunderbare Jesus-Trilogie von jeder Seite ausstrahlt, kann sich Ratzinger gerechtfertigt fühlen, wie im Echoraum von Goethes „Faust“: „Gerettet“.
Er und seine Kritiker werden letzten Endes vor Gott bestehen müssen
Der alte Papst wird von Pseudomoralisten der Lüge beschuldigt, dies ist schlechtes, farcehaftes absurdes Theater. In den irdischen Dingen können jene Kohorten sich vielleicht durchsetzen. Wie die Dinge liegen, vielleicht sogar in der kirchlichen Zeitgeschichte. Doch es bleibt der Trost des alten Karl Barth: Gott sitzt im Regiment. Es wird regiert.
Ratzingers Größe zeigt sich besonders bewegend in dem Brief an die Opfer des Missbrauchs: Er stellt sie und sich unter Gottes Gericht und spricht in Liebe und stiller Kraft im Blick auf die „dunkle Pforte des Todes“ in dem selben stillen „De profundis“, das in der Trauerrede auf seinen Bruder Georg im Juli 2020 zu vernehmen war. Was für ein Papst!
Portal der Tagespost- Stiftung ermöglicht persönliche Geburtstagsgrüße an Papst Benedikt XVI.
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