Bei Einsätzen der Verkehrspolizei kommt es in der Regel nicht vor, dass jemand, der an einer roten Ampel stehen geblieben ist, nach seiner Begründung dafür gefragt wird. Es ist stets umgekehrt. Derjenige, der die rote Ampel ignoriert hat, muss sich dafür erklären. Regeln, die eingehalten werden, sprechen für sich und legitimieren denjenigen, der sie beachtet aus sich heraus.
In der Einheit
In der dritten Synodalversammlung im Rahmen des Synodalen Weges der Deutschen Kirche wurde nun endgültig mit diesem Prinzip aufgeräumt. Wer sich an die tradierten Inhalte der katholischen Lehre halten will, muss sich begründen. In großer Mehrheit beschlossen Bischöfe und Laien, dem Verändern der Lehre einen regulativen Vorrang gegenüber dem Bewahren zu geben.
Nur eine verschwindende Minderheit drückte auf den roten Knopf des Abstimmungsgerätes, um die katholische Kirche Deutschlands strukturell und im Hinblick auf ihre Lehrverkündigung in der Einheit mit ihren apostolischen Ursprüngen und dem in der Weltkirche gelebten Glaubensgut zu halten. Die Synodenversammlung spiegelt damit mehrheitlich die in Deutschland seit Jahrzehnten eingeübte Praxis wieder, die bislang als verlässlich betrachteten Offenbarungsquellen wie Schrift und Tradition einer hermeneutischen Durchleuchtung auf eine Weise zu unterziehen, die sie eben dieser Verlässlichkeit beraubt. Die Offenbarung braucht die „Lebenswirklichkeit“, um aktualisiert zu werden.
„Lebenswirklichkeit“, als der in der Synodenhalle stets gerne verwandte Ersatzbegriff für den noch in der theologischen Geschäftsgrundlage des Orientierungstextes benutzten Konzilsterminus „Zeichen der Zeit“, wird damit zum entscheidenden Maßstab, an dem sich die Lehre zu orientieren hat.
"Die Anpassung der Sexualmoral
an die Gegenwartsverhältnisse
muss deswegen nicht wundern."
Der Zeitgeist
Die Synodalen sind der Auffassung, dass sich am Ende das, was eine Zeit hervorbringt, sich mit dem, was die Offenbarung zeigt, so verbindet, dass darin die Orientierung für die Menschheit liegt. Der langsame Abschied von der Vorstellung einer wahrheitsfähigen Erkenntnis, die unabhängig vom epochalen Wandel funktioniert, ist damit nun quasikirchenamtlich vollendet. Die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit ist in Frankfurt per Knopfdruck abgewählt worden. Und in deren Folge auch eine heteronome Vorstellung von Moral, in der sich das Leben nach einer objektiven Ordnung zu richten hat, wenn es gut sein will.
Die Autonomie des Handelns – meist mit Gewissensfreiheit begründet – darf sich ganz auf das verlassen, was der Einzelne als Freiheit versteht, vorausgesetzt, es widerspricht nicht der Freiheit eines anderen.
Die Ungeschichtlichkeit ist abgewählt worden
Die Anpassung der Sexualmoral an die Gegenwartsverhältnisse muss deswegen nicht wundern. Der Marsch der Aufklärung hat nun endgültig die Institution der Kirche durchdrungen, die sich bislang das Schöpfen aus zeitüberhobenen und damit für jede Zeit gültigen Quellen auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Gleich mit einkassiert werden damit die dogmatischen Grundlagen der Sakramenten- und Ämtertheologie. Galt bislang ein Traditionsverständnis, das davon ausging, dass Menschen aller Zeiten und Orte die Offenbarungsinhalte verstehen und leben können, wird nun der Konsens der gegenwärtig lebenden Rezeptoren ausschlaggebend für das, was gilt.
Auch hier dokumentiert sich der Abschied von der Vorstellung der Möglichkeit realistischer Erkenntnis einer objektiven Wahrheit, die auch dann Bestand hat, wenn nur wenige sie erkennen – so wie es etwa in den Anfängen des Christentums war, wo sich die Botschaft erst ganz langsam gegen die damals herrschende Lebenswirklichkeit und das Denken der damaligen Gegenwart durchsetzen musste.
Majorität statt Wahrheit
Nach dem Diktum von Bernhard Welte „Wenn die Glocken des Freiburger Münsters läuten und es hört sie niemand läuten, dann läuten die Glocken des Freiburger Münsters nicht“ soll künftig in der Lehre der Kirche nur das als wahr und zu befolgen gelten, was den Schwingungen des Lebensnervs einer Majorität entspricht.
Zeitgemäße Vorstellungen von Gleichberechtigung, Machtausübung, Sexualität oder Sakramentalität lösen zeitüberhobene Normen für Glauben und Leben ab. Es gibt zwar noch eine Offenbarung – die schon ein wenig zurückliegt – aber erst dank der mehrheitlichen Auslegungen der gegenwärtigen Theologenschaft, die sich gleich selbst als lehramtsbefähigt verstanden wissen will, wird diese Offenbarung „lebbar“.
Man muss im Konzert der Begeisterungsstürme und der Klagelieder im Nachgang zur letzten Synodalversammlung deswegen das eine festhalten: es ist nicht überraschend, dass sich die Mehrheit der Synodalen für eine neue Kirche ausgesprochen hat. Denn das, was sie dazu geführt hat, befindet sich seit Jahrzehnten im Gepäck dieser Theologenschaft, dominiert die Programme Bischöflicher Akademien, hat sich in den Episkopat transportiert und wird durch eine ganze Armada kirchensteuerlich alimentierter Multiplikatoren bis in den letzten Pastoralraum des Landes getragen.
Kein Stopp in Sicht
Es ist nicht zu erwarten, dass diese Lawine gestoppt wird. Der Abschied von der objektiven Theologie liegt schon zu lange zurück, als dass es noch möglich wäre, die Richtung des Denkens und des Glaubens umzuwenden.
Der Blick auf die Weltkirche tröstet nur sehr begrenzt. Denn erstens wird sich in Deutschland die kirchliche Wirklichkeit verändern, ob das die Afrikaner und Inder nachvollziehen können oder nicht.
Und die römische Zentrale, die klischeehaft immer als alte Tante apostrophiert wird, die nur mühsam zu bewegen ist, hat zurzeit einen Chef, der sich seinerseits, wie es scheint, mit der Harmonisierung der Gegensätze in Lehre und Moral anfreunden kann.
Neuevangelisierung ist nicht zu erwarten
In einem seiner Apostolischen Schreiben fordert er die Koexistenz unterschiedlicher Weisen der Interpretation der Lehre und des christlichen Lebens: „Es gelingt uns kaum, die Wahrheit, die wir vom Herrn empfangen haben, zu verstehen. Unter größten Schwierigkeiten gelingt es uns, sie auszudrücken. Deshalb können wir nicht beanspruchen, dass unsere Art, die Wahrheit zu verstehen, uns ermächtigt, eine strenge Überwachung des Lebens der anderen vorzunehmen.“ („Gaudete et exsultate“ 43).
Es ist kein Wunder, dass der Orientierungstext des Synodalen Weges dieses Zitat den Überlegungen und Abstimmungen seiner Teilnehmer voranstellt. Damit können alle Hoffnungen auf eine Evangelisierung in Deutschland im Sinne der Verkündigung zeitloser und übernatürlicher Wahrheiten getrost aufgegeben werden.
Die Fahrschüler, die dringend Unterweisung im Autofahren bräuchten, haben Fahrlehrer, die ihnen die Freiheit geben, ungebremst über die rote Ampel zu fahren. Ob sie es aus Liberalität zulassen oder weil sie farbenblind sind – die tragischen Folgen mindert es nicht.
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