Herr Werz, welche Rolle spielt die Kirchenmusik heute?
Kirchenmusik spielt in der Liturgie, Diakonie und für die Gemeinschaft innerhalb der Kirche eine große Rolle. Heute mehr denn je! Die Kirchenmusik gehört zur Liturgie und zum Gottesdienst dazu. Die zurückhaltende Musik während der Fastenzeit macht erfahrbar, um was es in der Vorbereitung auf Ostern geht. Die Kirchenmusik war schon immer aufs Engste mit der Liturgie verbunden. Wenn sich etwas in der Liturgie verändert hat, dann konnte man das an der Musik hören. Im Laufe der Kirchengeschichte wurde Kirchenmusik mehr und mehr zur Dienerin der Liturgie. Unter Papst Pius X., also zu Anfang des 20. Jahrhunderts, fand diese Entwicklung ihren Höhepunkt.
„Kirchenmusik spielt eine entscheidende Rolle für Menschen, die Gemeinschaft suchen. Was sich in der Chorgemeinschaft im Kleinen abbildet, ist ein Abbild für die Kirche als Ganzes.“
Ich denke auch bei der Diakonie, also beim Dienst am Menschen, an die Kirchenmusik. Ich weise immer wieder darauf hin, dass Chöre und Ensembles Woche für Woche verschiedenste Menschen in Kontakt mit der christlichen Botschaft bringen. Ich selbst weiß aus meiner kirchenmusikalischen Arbeit, dass die Texte und Melodien oftmals Chormitglieder tief berühren und ergreifen. Es geht hier nicht nur um Kunst, sondern um eine pastorale Tätigkeit. Umso erschütternder ist es für mich, dass die deutschen Bischöfe in ihrem Wort „In der Seelsorge schlägt das Herz der Kirche“ mit keinem Wort den Bereich der Kirchenmusik angesprochen haben. Ich würde sogar sagen: Viele Menschen setzen sich am meisten in der Musik mit Gott, dem Glauben und der Kirche auseinander.
Kirchenmusik spielt eine entscheidende Rolle für Menschen, die Gemeinschaft suchen. Was sich in der Chorgemeinschaft im Kleinen abbildet, ist ein Abbild für die Kirche als Ganzes. Nicht nur die Gemeinschaft eines Chores ist etwas Besonderes. Der Gesang stärkt auch die Gemeinschaft in der Liturgie und im Gottesdienst. Kirchenmusik hat ihren Platz auch außerhalb der Kirche: In Konzerthäusern und Philharmonien werden kirchliche Werke aufgeführt. Hallen und Säle füllen sich mit vielen Zuhörern. Ich glaube nicht, dass es hier nur um ein bestimmtes Genre geht, das besonders beliebt ist. Die Menschen erleben durch die Klänge der Musik nämlich eine existenzielle Erfahrung.
Wird das von den Verantwortlichen in der Kirche wahrgenommen?
Ich kann mich nach den vielen Gesprächen, die ich in meiner neuen Position als Generalsekretär führen darf, immer weniger von diesem Eindruck freimachen: Viele Verantwortliche in der Kirche verkennen die Kirchenmusik und ihre Strahlkraft innerhalb von Pfarreien oder Domkirchen. Es herrscht an vielen Orten leider eine Blindheit und eine Taubheit gegenüber der Kirchenmusik als größte Chance, Menschen zu erreichen.
Wie müsste die Kirche aussehen, damit die Kirchenmusik ihre gemeinschaftsstiftende und den Glauben stärkende Funktion weiter ausüben kann?
Erstens muss die Kirche gegenüber der Vielfalt der Kirchenmusik offen werden. Nur so entsteht kein Widerspruch zur schöpferischen Kreativität des Menschen als Abbild Gottes, der ihn geschaffen hat. Zweitens braucht es eine Kirche der Wertschätzung – gegenüber den Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusikern, aber auch gegenüber den zahlreichen ehrenamtlichen Sängerinnen und Sängern, Bläsern und Streichern, die sich mit viel Leidenschaft für die Sache einbringen. Drittens braucht es eine Kirche, die auf die Kirchenmusik als Mittel der Glaubensverkündigung vertraut. Musik kann Menschen erreichen, die der Institution Kirche kritisch oder ablehnend gegenüberstehen. Musik kann Menschen selbst dann erreichen, wenn diese mit der Institution Kirche überhaupt nicht in Kontakt kommen können oder wollen.
Viertens braucht es eine Kirche, die in die Kirchenmusik investiert. In Bistum, Dekanat und Pfarrei müssen auch Vertrauen und Freiräume entstehen. Unsere Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker müssen von dem, was sie tun können und wollen, leben können. Sie müssen Vertrauen, Freiraum und Geld haben, das ihnen künstlerische Freiheit eröffnet. Es braucht meiner Meinung nach aber auch finanzielle Mittel, um die Gemeinschaft des Chores zu fördern. Das wird mehr und mehr vernachlässigt oder sogar strikt reglementiert.
Fünftens braucht es eine Kirche, die ihr theologisches und pastorales Denken in einen Zusammenhang mit der Kirchenmusik setzt. Für mich ist es skandalös, dass die Kirchenmusik durch keinen Delegierten auf der Synodalversammlung vertreten war. Es ist skandalös, dass an den Lehrstühlen katholisch-theologischer Fakultäten eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Kirchenmusik eigentlich gar nicht stattfindet.
Welchen Beitrag wird der ACV zur notwendigen Neuevangelisierung leisten?
Ich vertraue der Musik, dass sie mit ihren Klängen und Worten Menschen berühren und mit dem Evangelium in Kontakt bringen kann. Ich bin fest davon überzeugt, dass Kirchenmusik das Potenzial hat, an die Ränder zu gehen und Menschen zu erreichen, die mit der Kirche und dem christlichen Glauben nicht in Berührung kommen können oder auch kommen wollen. Hierfür braucht es aber den Mut, neue Wege und Formate zu suchen und nicht nur darauf zu vertrauen, dass jemand zufällig in die Chorprobe oder den Sonntagsgottesdienst hineinstolpert. Wir müssen uns und unsere Musik zu den Menschen bringen. Wir haben über eine Ausschreibung der Staatsministerin Claudia Roth Fördermittel erhalten, um ein Projekt zu initiieren. Dieses Projekt richtet sich an Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung, an Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrung, an Menschen aus sozialen Brennpunkten. Chöre und Orte sollen durch das Projekt zu Orten werden, an denen es diesen Menschen „gut klingt“ und damit auch „gut geht“. Alle sollen sich willkommen und richtig am Platz fühlen.
Das Projekt heißt „Hier klingt? mir gut!“. Es hat nicht nur eine gesellschaftspolitische Relevanz, sondern bietet auch das Potenzial, den Glauben in Worten und vor allem auch in Taten zu leben. Aus diesem Grund bin ich sehr dankbar, dass sowohl die Caritas-Präsidentin, Frau Eva Maria Welskop-Deffaa, als auch Bundespräsident a. D. Christian Wulff die Patenschaft für dieses Projekt übernommen haben. Wenngleich sich dieses Projekt an kirchliche und weltliche Chöre richtet, so ist es doch ein starkes Signal, wenn klar wird: Der ACV hat die Menschen im Blick, die oftmals eine leise oder gar keine Stimme haben.
Florian Werz ist seit 2022 hauptamtlicher Generalsekretär des katholischen Chorverbandes „Allgemeiner Cäcilien-Verband für Deutschland“.
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