Eines der lange Zeit übersehenen Worte aus dem umfangreichen theologisch-pastoralen Lebenswerk von Karl Rahner ist seine Feststellung: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, einer, der etwas ,erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein, weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die im Voraus zu einer persönlichen Erfahrung und Entscheidung einstimmige, selbstverständliche öffentliche Überzeugung und religiöse Sitte aller mitgetragen wird“. Ganz in diesem Sinn stellte Papst Franziskus in seinem Brief an das „pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ vom 29. Juni 2019 fest, eine „gelebte Evangelisierung“ sei „keine Taktik kirchlicher Neupositionierung in der Welt von heute, … keine ,Retusche‘, die die Kirche an den Zeitgeist anpasst, sie aber ihre Originalität und ihre prophetische Sendung verlieren lässt …
Nein, die Evangelisierung ist ein Weg der Jüngerschaft in Antwort auf die Liebe zu dem, der uns zuerst geliebt hat (1 Joh 4, 19); ein Weg also, der einen Glauben ermöglicht, der mit Freude gelebt, erfahren, gefeiert und bezeugt wird. Die Evangelisierung führt uns dazu, die Freude am Evangelium wiederzugewinnen, die Freude, Christen zu sein.“ Ähnlich hatte er bereits in seiner ersten Enzyklika Evangelii Gaudium (EG) erklärt: Der erste Beweggrund zur Verkündigung des Evangeliums sei „die Liebe Jesu, die wir empfangen haben“. Wir sollten den Blick seiner Liebe erkennen, wie ihn zum Beispiel Natanael bei seiner Berufung erfahren hat (Joh 1, 48).
Einen „inneren Raum“ pflegen
Wie können wir das? Papst Franziskus antwortet: „Wie schön es ist, vor einem Kreuz zu stehen oder vor dem Allerheiligsten zu knien und einfach vor seinen Augen da zu sein!“ Es gäbe „nichts Besseres, das man an die anderen weitergeben kann“, als das Evangelium (EG 264). Wir sollten nicht vergessen, „dass das Evangelium auf die tiefsten Bedürfnisse der Menschen antwortet. Denn wir alle wurden für das erschaffen, was das Evangelium uns anbietet: Die Freundschaft mit Jesus und die brüderliche Liebe“. Das Evangelium, sei „in der Lage, dort einzudringen, wohin nichts anderes gelangen kann. Unsere unendliche Traurigkeit kann nur durch eine unendliche Liebe geheilt werden“. Sie ist der „Weg zu Befreiung von Sünde und Tod“ (EG 265). „Evangelisierende mit Geist“ müssen einen „inneren Raum“ pflegen, „der dem Engagement und der Tätigkeit einen christlichen Sinn verleiht.
Ohne längere Zeiten der Anbetung, der betenden Begegnung mit dem Wort Gottes, des aufrichtigen Gesprächs mit dem Herrn verlieren die Aufgaben leicht ihren Sinn, werden wir vor Müdigkeit und Schwierigkeit schwächer und erlischt der Eifer. Die Kirche braucht dringend die Lunge des Gebets“. Im Einzelnen nennt er „die Gebetsgruppen, die Gruppen des Fürbittgebets und der betenden Schriftlesung sowie die ewige eucharistische Anbetung“ (EG 262). Zugleich weist er nüchtern auf die „menschliche Schwachheit“ hin, die zu allen Zeiten am Werk ist. Deshalb sollten wir nicht sagen, „dass es heute schwieriger ist“ als früher, „es ist anders“. Dazu sein Appell: „Lernen wir indessen von den Heiligen, die uns voran gegangen sind und die die jeweiligen Schwierigkeiten ihrer Zeit angepackt haben“ (EG 263).
Synodale Sackgasse
In einem Interview erklärte ein deutscher Bischof vor einigen Jahren, die Kirche in Deutschland befinde sich gegenwärtig „am Nullpunkt“, aus dem sie der „Synodale Weg“ herausführen solle. Inzwischen muss man nach dem (vorläufigen) Ende des deutschen „Synodalen Weges“ feststellen, dass die Mehrheit der Mitglieder dieses Gremiums statt auf den Weg der Jüngerschaft eher in eine „Sackgasse“ geführt hat. Insoweit scheint das Wort vom „Nullpunkt“ zuzutreffen.
Woran aber kann man erkennen, wie es wirklich um den Zustand der katholischen Kirche steht? Dies lässt sich letztlich nur daran messen, ob es eine signifikante Zahl von Katholiken gibt, die glauben, dass ihr himmlischer Vater jedes seiner Kinder liebt, und die im persönlichen Gebet ihm täglich dafür danken; dass ihnen Gott dank der Lebenshingabe Jesu Christi am Kreuz und seiner Auferstehung alle Sünden vergibt, die sie vor ihm bereuen und im Sakrament der Buße bekennen; die glauben, dass Gott die Kirche Jesu Christi durch den Beistand des Heiligen Geistes in der heilsnotwendigen Wahrheit bewahrt bis zum Ende der Welt; dass Gott ihr Zeugnis des Glaubens, ihr fürbittendes Gebet, ihre tätige Nächstenliebe und das Tragen ihres „täglichen Kreuzes“ in seinen Dienst nimmt, damit möglichst viele Menschen den Weg zu Gott finden; und die nicht zuletzt glauben, dass sie in der „Gemeinschaft der Heiligen“ Gott einmal ewig schauen dürfen.
Trotz menschlicher Schwäche den Glauben verkünden
Diese oder ähnlich formulierte Grundwahrheiten des Glaubens zu verkünden und trotz unserer menschlichen Schwachheit danach zu leben, ist der Sinn des Auftrags, den Papst Franziskus dem „pilgernden Volk Gottes in Deutschland“ in seinem Brief vom 29. Juli 2019 ans Herz legen wollte. Insofern ist zu fragen, und darüber wäre beim „Synodalen Weg“ zu sprechen gewesen: Inwieweit werden heute in der Kirche hierzulande die genannten Grundwahrheiten und Lebensvollzüge des Glaubens vermittelt? In der familiären religiösen Erziehung, in der gottesdienstlichen Verkündigung, im Religionsunterricht, im persönlichen Glaubensgespräch, in der Gemeindekatechese, in katholischen Verbänden und Bewegungen, und auch über Leser- und Hörerbriefe in den Medien der öffentlichen Meinungsbildung?
Auf den hier skizzierten Wegen der „Neuevangelisierung“ sollte man sich nicht von Illusionen, aber auch nicht von Pessimismus leiten lassen. Heilsgeschichtlich betrachtet befindet sich das „Volk Gottes“ im Vergleich zur Menschheit nach den Zeugnissen der Bibel dank seiner Berufung durch Gott nie „am Nullpunkt“, aber auch nie auf einem „Höhepunkt“. Wo aber dann? Zur Beantwortung dieser Frage kann eine theologische Wahrheit tröstlich und besonders heute hilfreich sein, die Joseph Ratzinger vor etwa 60 Jahren in seiner Bonner Zeit als Professor für Fundamentaltheologie so formuliert hat: „Um die Rettung aller sein zu können, muss sich die Kirche nicht auch äußerlich mit allen decken, sondern eher macht dies ihr Wesen aus, dass sie in der Nachfolge Christi des ,Einen‘ die Schar der ,Wenigen‘ darstellt, durch die Gott die ,Vielen‘ retten will. Ihr Dienst wird zwar nicht von allen, wohl aber für alle getan.“ Die „Wiederentdeckung“ der „Idee der Stellvertretung“ könnte, so Ratzinger damals, dem Christentum „in der heutigen Weltenstunde zu einer entscheidenden Erneuerung und Vertiefung seines Selbstverständnisses verhelfen“.
Der Autor ist emeritierter Professor für christliche Gesellschaftslehre und Pastoraltheologie.
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