Das Werk gehört zu den einflussreichsten Schriften des Abendlandes. In nahezu allen europäischen Sprachen ist es inzwischen übersetzt worden: die Theologische Summe des Thomas von Aquin (+ 1274), die Summa theologiae. Die deutsch-lateinische Ausgabe, ein Gemeinschaftswerk von Dominikanern und Benediktinern aus Deutschland und Österreich, blieb bis heute unvollständig. Dabei erschien ihr erster Band bereits im Jahre 1933. Doch irgendwann verlor man das Interesse. „Wir brauchen keine Übersetzung“, hieß es vor rund 30 Jahren von einem meiner akademischen Lehrer noch. „Wer sich für Thomas interessiert, kann Latein.“
Nur noch Experten
Heute kennen im deutschen Sprachraum nur noch Experten die Theologie des Aquinaten. Man ist inzwischen nicht nur mit dem Latein, sondern auch mit Thomas am Ende. Es ist auffällig: Seit Jahrzehnten sieht man auf internationalen Thomas-Kongressen überwiegend Philosophen, Historiker, Mediävisten, Romanisten und Latinisten: kaum noch Theologen. Der blitzgescheite und liebenswürdige Pater Senner OP, inzwischen verstorben, bildete die Ausnahme. Auch Thomas Eggensberger OP ist zu nennen. Er wird die noch ausstehenden Bände übersetzen: Bd. 19 (Sth II–II 80–100) über die „Tugenden der Gottesverehrung“, und Bd. 33 und 34 (Suppl. 41–54; 55; 68), in denen es um die Ehe geht. Klaus Jakobi, der Übersetzer und Kommentator dieser bedeutenden Quaestiones der Summa theologiae, ist weder Dominikaner noch Benediktiner.
Er ist überhaupt kein Theologe. Er ist Philosoph, lehrte in Freiburg und hat sich durch seine Erforschung des Nikolaus von Kues, Meister Eckharts und der Deutschen Mystik einen Namen gemacht. Was er hier auf über 1 500 Seiten präsentiert, ist in der Tat beachtlich, und zwar nicht nur in quantitativer, sondern vor allem in qualitativer Hinsicht.
Gegenstand der beiden vorliegenden Bände sind Fragen, die den Menschen existenziell berühren: Fragen nach dem letzten Ziel menschlichen Handelns und dem menschlichen Handeln selbst. Thomas stellt dem Ganzen einen klärenden Prolog voran. Er habe zuerst von Gott gesprochen; von Gott und seiner Schöpfung, de Deo, et de his quae. Jetzt wolle er vom „Bild Gottes“ sprechen: vom Menschen und seinem Schaffen, von seinem Tun und Handeln.
Der Weg - das sind menschliche Handlungen
Ausgerechnet hier ist die Übersetzung falsch. De Deo, et de his quae wird statt mit „von Gott“ mit „über Gott“ und „über das, was…“ übersetzt. Ein „Über Gott“ aber gibt es gerade nach Thomas nicht. Gott ist ihm jene Wirklichkeit, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, ja eine Wirklichkeit, die größer ist als all unser Denken, wie er im Rekurs auf Anselm von Canterbury variantenreich zu betonen pflegt. Thomas ist Realist. Er übt sich in Selbstbescheidung. Von Gott begreifen wir immer nur das von ihm Verschiedene, die Schöpfung, die Welt, den Menschen. Die Schöpfung weist auf den Schöpfer hin. Deshalb kann man von Gott nur analog sprechen.
Schon gar nicht gibt es einen dritten Standpunkt, von dem aus wir Gott in die Karten schauen könnten. So beobachtet Thomas den Menschen, das „Bild Gottes“. Dabei stellt er fest: Die Menschen wollen glücklich werden. Dieses Ziel kritisiert er nicht. Er begrüßt und unterstützt es. Doch was genau ist Glück und Glückseligkeit? Und wie kann man dieses Ziel erreichen? Was muss der Mensch tun, wie muss er sich verhalten, wie handeln, um glücklich zu werden? Das Ziel bestimmt den Weg.
Der Weg aber besteht aus menschlichen Handlungen. Welche führen zum Ziel, welche ins Abseits oder, noch schlimmer, in den Abgrund? Thomas liebt die Ordnung. Er geht systematisch vor. Bei seiner Analyse der menschlichen Handlungen etwa wendet er konsequent die Ursachenlehre des Aristoteles an. Überhaupt gelingt es ihm, diese zum Kernbestand des scholastischen Wissenschaftsverständnisses zu etablieren. Er definiert Wissenschaft geradezu als „Erkenntnis der Dinge aus ihren Ursachen“.
Wollen und Wirken
Wir dürfen es nicht übersehen: Die vier Ursachen gehören der Wirklichkeit selbst an, ihrem Entstehen und Vergehen. Sie unterstreichen die relative Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit der natürlichen Wirklichkeit in all ihren Bereichen. Sie erheben Einspruch gegen jedweden Versuch, das „Religiöse“ und „Übernatürliche“ so sehr zu betonen, dass das Weltliche und Natürliche ignoriert oder gar ausgelöscht wird. Thomas spielt Gottes-Glaube und Welt-Wissen keineswegs gegeneinander aus. Er bejaht beziehungsweise verneint das eine keineswegs auf Kosten des anderen.
Im Gegenteil: Es geht ihm darum, sie so aufeinander zu beziehen, dass das eine durch das andere erhellt und erschlossen wird. Mitunter geht er dabei sogar soweit, dass er die von ihm selbst festgestellte einseitige Relation des Geschaffenen auf den Schöpfer, auf Gott, zu vergessen scheint. Doch sein Analogieverständnis unterstreicht es: Der Sohn ist dem Vater ähnlich, nicht aber der Vater dem Sohn! Zentral für menschliches Handeln und seine Beurteilung ist nach Thomas, dass der erkennende Geist zum Objekt gelangt, also vordringt zum Wesen der Dinge.
Menschliches Wollen und Wirken ist von dieser Erkenntnis bestimmt. Der Wille wird gelenkt durch die Erkenntnis. Menschliches Handeln ist dann gut, wenn es realistisch ist, wenn es der Wirklichkeit entspricht. Agere sequitur esse. Das Handeln folgt dem Sein. Das Gute ist wesenhaft abhängig und innerlich „informiert“, also durchformt, von der Erkenntnis. Gut ist, „wer die Wahrheit tut“ (vgl. Johannes 3, 21). Das Gute setzt das Wahre voraus. Thomas zeigt die Zusammenhänge und betont, dass das Gute als das Wahre früher auf die Erkenntnis bezogen ist, als das Gute als Erstrebbares zum Willen gehört (594).
Gott als Erstursache erkennen
Daran hängt das Virtus-Verständnis. Tugend ist das dem Willen eingeprägte Siegel der Erkenntniskraft. Beim Handeln des Menschen darf nach Thomas nicht übersehen werden: Das Erkennen und Anerkennen Gottes als Erstursache, causa prima, ist für den Menschen nichts Fremdes, nicht etwas, was ihn „von außen“ anbefohlen werden müsste. Die Erstursache ist gerade nicht das, was ihn, den Menschen, fremdbestimmt, sondern das, wodurch er überhaupt ist, was er ist. Die Erstursache ist das, wonach der Mensch sich im Tiefsten seines Innern sehnt, ist das, was ihn letztlich glücklich macht, ist der innerste Kern und äußerste Stern menschlicher Existenz. Nimmt der Mensch diese seine Sehnsucht wahr, hört er auf dieses Verlangen, dann sucht er Gott und strebt er – sich selbst verwirklichend – nach Vollkommenheit und Glückseligkeit, beatitudo.
Es macht Freude, Übersetzung und Kommentar zu lesen. Auf der einen Seite ist der lateinische Urtext, auf der anderen Seite die von Klaus Jakobi gebotene Übersetzung. Früher war es anders. Da stand der deutsche Text oben, der lateinische, kleiner gesetzt, unten. Jetzt ist es angenehmer. Natürlich: Man liest auf Deutsch. Wann immer man aber von einem Gedanken, einer Frage, einer Argumentation besonders beeindruckt ist, wirft man einen Blick auf den parallel dazu gesetzten lateinischen Text. Dann wird es klarer.
Nimm und lies
Die Übersetzung ist insgesamt gelungen, der Kommentar hilfreich und keineswegs überladen. Die Anmerkungen gehen ins Detail, hätten aber noch einmal Korrektur gelesen werden dürfen. Es gibt Verdoppelungen und Verdrehungen. Zum Schluss wird eine Übersicht über die Deutsche Thomas-Ausgabe geboten; auch über das, was noch aussteht. Es ist nicht mehr viel. Die Lücke wird endlich geschlossen und dem Leser die theologische Summe des Aquinaten erschlossen. „Nimm und lies!“, und du wirst Einblick in die Weite und Tiefe, ja, in die entrückte Klarheit des Katholischen gewinnen.
Thomas von Aquin: Ziel und Handeln des Menschen. Einleitung, Text und Übersetzung I–II, 1–21.
Übersetzt und kommentiert von Klaus Jakobi.
De Gruyter: Berlin/Boston 2021 (= Die Deutsche Thomas Ausgabe. Summa theologiae Bd. 9 A),
1–683 S.;
Thomas von Aquin: Ziel und Handeln des Menschen. Theologie- und philosophiehistorischer Kommentar.
Übersetzt und kommentiert von Klaus Jakobi.
De Gruyter: Berlin/Boston 2021 (= Die Deutsche Thomas Ausgabe. Summa theologiae Bd. 9 B),
687–1504 S., geb., ISBN 978-3-11-074292-3; EUR 123,95
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