Die Sonne steht hoch über Afrika. Sklavenhändler quälen ihre Beute durch die Hitze. Hier, im südlichen Sudan, gehen die Araber seit Jahrhunderten auf die Jagd nach Nichtmuslimen. In Darfur sind sie fündig geworden. Sie treiben Männer, Frauen und Kinder über 900 Kilometer nach al-Ubayyid. Darunter ein Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt. Sie muss die Strecke barfuß gehen.
Es ist das Jahr 1877. Das Mädchen hatte bis dahin ein unbesorgtes Leben. Sie entstammt dem Volk der Daju, das im südwestlichen Sudan an der Grenze zum Tschad lebt. Ihr Vater ist wohlhabend und Bruder des Häuptlings ihres Stammes. Zwei Jahre vor ihrer eigenen Entführung wird ihre Schwester versklavt. Das Trauma der Versklavung wird dazu führen, dass sie ihren eigenen Namen vergisst. Die arabischen Herren geben ihr den Namen Bakhita – „die Glückliche“.
Bereits bevor sie al-Ubayyid erreicht, wird sie zweimal als Sklavin verkauft. In der Stadt selbst, die damals als zweitgrößte Stadt neben der Hauptstadt Khartum gilt, erwirbt sie ein reicher Araber. Sie fällt in Ungnade, als sie einen der Söhne des neuen Herrn beleidigt. Ihr nächster Besitzer ist ein türkischer Heerführer, dessen Mutter und Ehefrau die Sklaven grausam behandelt. Peitschenschläge sind an der Tagesordnung. Später erinnert sie sich: „In all den Jahren, die ich in diesem Haus verbrachte, erinnere ich mich an keinen Tag, der ohne irgendeine Wunde verging. Kaum begann eine Wunde von der Peitsche zu heilen, prasselten neue Schläge auf mich nieder.“
Als Sklavin muss sie ein schmerzhaftes Ritual durchstehen, dass sie als fremden Besitz deklariert. Ihre Besitzer ritzen Wunden in ihre Brust, ihren Bauch und ihren rechten Arm, in die sie Salz streuen, damit die Narben bleiben. Bakhita sollen insgesamt 114 oder sogar 144 dieser „Sklavenzeichen“ zugefügt worden sein.
Ihr Leben nimmt eine entscheidende Wendung, als im Sudan der Mahdi-Aufstand ausbricht. Das Land gehört damals zum Ägypten, das nominell dem Osmanischen Reich untersteht, aufgrund des Staatsbankrotts aber von einem britischen Generalgouverneur verwaltet wird. Muhammad Ahmad, der Sohn eines Bootsbauers, will das Land von der Fremdherrschaft befreien und einen islamischen Gottesstaat errichten. Die Sudanesen erkennen in ihm den Mahdi, den im Koran angekündigten Messias. Die Verquickung von islamischer Suprematie und Bürgerkrieg wird die Region auch in kommenden Jahrhunderten prägen.
Die Erfolge der Mahdisten führen zum panischen Exodus. Auch der türkische General, dem Bakhita dient, will in seine Heimat zurückkehren und verkauft seine Sklaven. Sie wird vom italienischen Vizekonsul Callisto Legnani gekauft, der sie deutlich besser behandelt als die Vorgänger. Als Legnani zwei Jahre später selbst nach Italien zurückkehren muss – die Hauptstadt Khartum, in der er residiert, wird mittlerweile von den Mahdisten belagert –, bittet Bhakita darum, sie mitzunehmen. Zusammen mit einem Freund von Legnani, Augusto Michieli, schlägt sich die Gruppe aus der belagerten Stadt und flieht auf Kamelen bis zum Meer. In Genua angekommen überträgt Legnani die Vormundschaft auf Michieli. Bhakita ist fünfzehn Jahre alt, als sie italienischen Boden betritt.
Mit Michieli zieht sie zu dessen Familie nach Venetien, wo sie drei Jahre lang als Hausmädchen arbeitet und die Tochter Alice betreut. Hier kommt sie zum ersten Mal in Kontakt mit dem christlichen Glauben, der sich vertieft, als die Michielis wegen geschäftlicher Verpflichtungen in den Sudan zurückkehren und Bakhita zusammen mit Alice in die Obhut der Canossianerinnen von Venedig übergeben. Papst Benedikt XVI., der Bakhita in seiner Enzyklika Spe salvi ein Denkmal setzt, schreibt über diese Zeit:
„Nun hatte sie ‚Hoffnung‘ – nicht mehr bloß die kleine Hoffnung, weniger grausame Herren zu finden, sondern die große Hoffnung: Ich bin definitiv geliebt, und was immer mir geschieht – ich werde von dieser Liebe erwartet. Und so ist mein Leben gut. Durch diese Hoffnungserkenntnis war sie ‚erlöst‘, nun keine Sklavin mehr, sondern freies Kind Gottes.“
Als die Michielis aus dem Sudan zurückkehren, und Bakhita wieder mitnehmen wollen, wehrt sie sich. Sie will bei den Canossianerinnen bleiben. Der Streit kommt vor Gericht. Doch der Staatsanwalt stellt fest, dass die britischen Behörden im Sudan die Sklaverei bereits vor Jahren abgeschafft hätten. Überdies habe das italienische Recht die Sklaverei nie anerkannt. Rechtlich sei Bhakita daher nie Sklavin gewesen. Da sie nunmehr auch volljährig ist, kann die Sudanesin zum ersten Mal in ihrem Leben frei entscheiden. 1890 lässt sie sich auf den Namen Giuseppina Margherita Fortunata taufen. Drei Jahre später beginnt ihr Noviziat bei den Canossianerinnen. 1902 siedelt sie in den Konvent von Schio bei Vicenza über. Giuseppina bzw. Josefine wird dort den Rest ihres Lebens verbringen.
In Schio erfreut sich die „Madre Moréta“ großer Beliebtheit. Sie ist bekannt für ihr freundliches Lächeln und ihre ruhige Stimme – sie redet nur im venetischen Dialekt. Im Ersten Weltkrieg pflegt sie Verwundete. Als Ida Zanolini ihre Lebensgeschichte 1931 veröffentlicht, wird sie in ganz Italien bekannt. Als Afrikanerin macht sie sich für die Mission ihrer Heimat stark. Im Zweiten Weltkrieg hilft sie der betroffenen Zivilbevölkerung. Obwohl die Bomben auch auf Schio fallen, gibt es in der Stadt kein Todesopfer. Die Bewohner führen es auf den Schutz der Frau zurück, die sie mittlerweile für eine lebende Heilige halten.
Bhakita stirbt 1947. Tausende Menschen nehmen von ihr Abschied. Die Diözese eröffnet nahezu sofort das Kanonisierungsverfahren. Unter Papst Johannes Paul II. folgt 1992 ihre Seligsprechung. Sie findet mitten im Sudanesischen Bürgerkrieg (1983 bis 2005) statt. Auch in dieser Zeit hat der Sklavenhandel wieder Aufschwung. Die christliche Menschenrechtsorganisation Christian Solidarity International (CSI) befreit damals allein zehntausende Sklaven – ein Tabu. Auch deswegen versuchen die Behörden in Khartum die Neuigkeiten über die Seligsprechung zu verhindern. Neun Monate später besucht der Papst das Heimatland Bhakitas persönlich und verkündet: „Freu dich, ganz Afrika! Bakhita ist zurückgekehrt. Die Tochter des Sudan, die als lebende Ware in die Sklaverei verkauft wurde und dennoch frei ist. Frei mit der Freiheit der Heiligen.“
Am 1. Oktober 2000 wird Josefine Bhakita zur Ehre der Altäre erhoben. Die ehemalige Sklavin ist heute Schutzpatronin des Sudan und des Südsudan. Papst Franziskus hat ihren Gedenktag, den 8. Februar, zum International Tag des Gebets für die Opfer von Menschenhandel erhoben. Angesichts der Menschenrechtsverletzungen, der Gefolterten und Ermordeten, die auch heute den Sudan zeichnen, ist die Geschichte Bhaktias aktueller denn je. Auf die Frage, was sie tun würde, würde sie die Männer treffen, die sie einst versklavten, antwortete Bhakita: „Wenn ich meinen Entführern und sogar meinen Folterern begegnen würde, würde ich niederknien und ihre Hände küssen. Denn wenn diese Dinge nicht geschehen wären, wäre ich heute nicht Christin und Ordensfrau.“
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