Die Betriebstemperatur in den sozialen Netzwerken steigt seit Jahren. Das von der Deutschen Bischofskonferenz finanzierte Nachrichtenportal „katholisch.de“ hat daher entschieden, seine Netiquette, vulgo: den Knigge für die Nutzer der Kommentarfunktion, zu verschärfen, um kontraproduktiven Diskussionen rascher das Wasser abgraben zu können. Die Redaktion kündigt an, „deutlich rigoroser“ gegen Hassbotschaften vorzugehen. Da Beleidigungen, Diskriminierung, Halbwahrheiten und Falschbehauptungen in Kommentarspalten genauso fehl am Platz sind wie in seriösen Artikeln ist mehr Worthygiene in der kirchlichen Debattenkultur fraglos notwendig.
Überholte Traktate
Ein Hinweis von katholisch.de lässt den Leser allerdings aufhorchen: „Für uns stehen Toleranz und Respekt gegenüber anderen Menschen an oberster Stelle. Wenn aus dem Kontext gerissene Zitate aus der Bibel oder Sätze aus theologisch längst überholten Traktaten Lebensentwürfe entwerten oder Menschen verletzen sollen, werden wir das künftig nicht mehr tolerieren. Ob ein Kommentar verletzend ist, entscheidet aber nicht derjenige, der ihn geschrieben hat, sondern die Person, gegen den er gerichtet wurde.“ Persönliche Betroffenheit ersetzt aber belastbare Argumente nicht.
Wem kommt nun künftig die Deutungshoheit darüber zu, was ein theologisch überholtes Traktat ist? Nicht zuletzt die Texte der frühen Kirche und die Theologen der Gegenreformation wandten stilistische Mittel wie Polemiken gegenüber dem kirchenpolitischen Gegner noch sehr viel unbekümmerter an als Theologen heute. Dürfen die Texte der Kirchenväter auf katholisch.de noch unzensiert zitiert werden? In der von Papst Franziskus gewünschten Neuevangelisierung Deutschlands spielen sie eine unersetzliche Rolle (siehe Seite 15). Und: Sollen katholisch.de-Nutzer die alttestamentlichen Fluchpsalmen und Propheten betroffen aus ihrem Gedächtnis verbannen?
Nur noch Befindlichkeiten
Wenn alle Ausgrenzungsmacht dem Gegenüber gegeben wird, sind inflationäre Diskriminierungs- und Betroffenheitsdebatten in Kirchenkreisen nicht ausgeschlossen. Denn der zeitgenössische Feminismus und die Befindlichkeiten der LGBTQ-Lobby bieten ein Entrüstungspotenzial, das vielen praktizierenden Katholiken fremd ist und auch in Zukunft bleiben dürfte. Eine Kostprobe? Die Toleranz mancher Feministin wird schon durch die schlichte Vokabel „Marienverehrung“ bis aufs äußerste strapaziert. So wird der Leser in dem Band „Sexualitäten in unserer Gesellschaft“ (de Gruyter, 1989) belehrt, die Marienverehrung in der katholischen Kirche und in der Orthodoxie sei eine „frauen- und sexualfeindliche Ideologie“.
Unsensibel gegenüber der Tradition
Man darf gespannt sein, wie sensibel katholisch.de mit den Befindlichkeiten lehramtstreuer Katholiken umgeht. Letztere müssen sich mitunter ein dickes Fell zulegen, wenn sie kirchliche Medien in Deutschland nutzen. Man betrachte das Symbolbilder-Paket der katholischen Nachrichtenagentur zum Thema „Kirche und Missbrauch“. Der kopflos dargestellte Priester trägt Soutane, die im Weltklerus unüblich gewordene Priesterkleidung. Nur die Mitglieder traditionsorientierter Gemeinschaften sind heute noch an der Soutane erkennbar. Die nonverbale Botschaft des Fotoangebots suggeriert, es bestehe ein Zusammenhang zwischen Missbrauch und traditionsverbundenen Priestern. Keine Frage, es braucht Netiquette, aber keine beliebige.
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