Petra Röder ist wütend. "Ich bin eine Frau, mittlerweile geschieden und habe eine Abtreibung hinter mir", erzählt die Berlinerin im Gespräch. In allen drei Dingen hadert sie mit der Haltung der katholischen Kirche und spielt mit dem Gedanken auszutreten. Wie die Kirche mit Frauen umgehe, das sei einfach nicht mehr zeitgemäß. Besonders auf die Palme gebracht hat sie ein Ereignis aus den USA: Die Sprecherin des Repräsentantenhauses im amerikanischen Kongress, Nancy Pelosi , bekennende Katholikin, darf nicht mehr zur Kommunion gehen. Der Grund: Sie hatte sich mehrfach für ein Recht auf Abtreibung ausgesprochen.
Rekordwert bei Kirchenaustritten
Der Erzbischof von San Francisco, Salvatore J. Cordileone, hat sie daraufhin von der Eucharistie ausgeschlossen. Für Petra Röder ein Unding: "Das ist für mich eine Unterwanderung der Demokratie." Die katholische Kirche sei nicht demokratisch, aber sie müsse es werden denn im 21. Jahrhundert seien "feudale Strukturen" nicht mehr zeitgemäß. Und so überlegt die Lehrerin, ob sie die Kirche verlassen soll.
Viele andere haben diesen Schritt bereits vollzogen: Mehr als 359 000 Kirchenaustritte gab es im Jahr 2021 auf katholischer Seite. Gerade in der Bundeshauptstadt ist der Anteil der Ausgetretenen gemessen an der Mitgliederzahl am höchsten: 2,7 Prozent aller Berliner Katholiken kehrten ihrer Kirche 2021 den Rücken - ein Rekordwert. Und nur selten kommen die Pfarreien vor Ort mit den Ausgetretenen ins Gespräch, erzählt Pfarrer Oliver Cornelius. Er leitet die Pfarrei Bernhard Lichtenberg, eine Großgemeinde mitten in der Stadt. Szene-Stadtteile wie Kreuzberg und Prenzlauer Berg gehören dazu, aber auch die Bistumskathedrale St. Hedwig. Eine Pfarrei mitten im bunten, alternativen, oft auch kirchenkritischen Berlin.
Der wahr Grund meines Kircheseins
Pfarrer Cornelius ist mit Petra Röder im Gespräch, versucht sie zu überzeugen, in der Kirche zu bleiben. Dass das nicht einfach ist, weiß auch er, denn Gründe für einen Austritt gibt es derzeit viele: Die Skandale rund um sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, aber auch diffuse Gründe wie die Exkommunikation der US-Politikerin Pelosi. Cornelius versucht in Gesprächen, hinter dem Ärger über Gottes "Bodenpersonal" die wahren Glaubensgründe offenzulegen. Was ist der wahre Grund meines Kircheseins? Was ist mit meiner Christusbeziehung? Oder argumentiere ich nur noch kirchenpolitisch?
Solche Fragen stellt er Menschen, die mit dem Gedanken eines Austritts spielen. Doch mit ihnen in Kontakt zu kommen, ist gar nicht so einfach. "Die Massen erreiche ich nicht", gesteht Oliver Cornelius. Manche meldeten sich per Mail, manche kämen aus der Gemeinde und sagten "Jetzt ist Schluss". Aber die meisten verabschiedeten sich anonym aus der Glaubensgemeinschaft.
"Wir gehen konsequent auf Ausgetretene zu"
So kann die Kirche oft erst dann reagieren, wenn jemand bereits seinen Kirchenaustritt beim zuständigen Amtsgericht erklärt hat. Erst dann bekommen die Pfarreien eine Nachricht - und können nur noch im Nachgang versuchen, mit der Person in Kontakt zu treten. "Wir gehen konsequent auf Ausgetretene zu", versichert der Berliner Generalvikar Pater Manfred Kollig im Gespräch mit der "Tagespost". Jeder, der seinen Austritt erklärt hat, erhält zwei Briefe, einen vom Erzbistum - von Kollig persönlich unterzeichnet -, den anderen von der Pfarrei, zu der er bis dahin gehört hat. Darin drücke er sein Bedauern über die Entscheidung aus und mache deutlich, dass man über das Band der Taufe weiter verbunden bleibe. Jeder Brief enthalte zudem ein Gesprächsangebot an den Ausgetretenen.
Eine Antwort der Angeschriebenen bleibt in den meisten Fällen jedoch aus. Vielleicht ein Prozent der Adressaten würde sich anschließend überhaupt zurückmelden - dann aber oft mit sehr differenzierten Antworten, so der Berliner Generalvikar. Dass es in Berlin prozentual mehr Austritte gebe als im Rest der Republik, liegt für ihn auch an der hohen Fluktuation der Menschen. "Es gibt sehr viele Menschen, die den Wohnort wechseln. Sie nutzen dann die Gelegenheit, aus der Kirche auszutreten, oder geben die Konfession bei der Ummeldung gar nicht mehr an." Hinzu komme die spezielle Situation in Berlin - die Stadt sehe sich als aufgeklärt, liberal, "mit einer gewissen Grundskepsis gegenüber allem Institutionellem", so Pater Kollig.
Praktische Folgen eines Kirchenaustritts
In dem Brief macht der Generalvikar die Ausgetretenen aber auch auf die Konsequenzen des Kirchenaustritts aufmerksam. So dürfen sie keine Sakramente mehr empfangen oder kirchliche Ämter übernehmen. Auch das kirchliche Begräbnis kann ihnen verwehrt werden. Dabei weicht der Brieftext in Berlin leicht von einem Musterschreiben der Deutschen Bischofskonferenz ab, ist an einigen Stellen etwas weniger scharf formuliert. Dennoch ist es Pater Kollig wichtig, auch auf die praktischen Folgen eines Kirchenaustritts hinzuweisen, "damit wir Klarheit haben". Es gehe dem Erzbistum um Ehrlichkeit gegenüber den Ausgetretenen, macht er deutlich.
Ein paar Kilometer weiter westlich im Stadtteil Charlottenburg kann Pater Manfred Hösl dieses Vorgehen nicht nachvollziehen. Der Jesuit ist Pfarrer an St. Canisius, einer Niederlassung seines Ordens mitten in der Hauptstadt. Die Reaktionen auf den Brief des Bistums nennt er "desaströs", er schade der Kirche. Offenheit und Liberalität gegenüber der Stadtgesellschaft werden in St. Canisius großgeschrieben. Zum Forum der Jesuiten, einem Begegnungszentrum neben der Kirche, gehört die Katholische Glaubensinformation (KGI), die auch Menschen begleitet, die aus der Kirche austreten oder sich ihr wieder anschließen wollen. Doch auch Hösl kommt nur mit maximal fünf bis zehn Prozent der Menschen ins Gespräch, die sich aus der Kirche verabschieden wollen, sagt er im Gespräch.
Gegensätzliche Positionen
Als Pfarrer schreibt er in einem eigenen Brief die Ausgetretenen an, lädt sie zum Gespräch ein - nicht nur im Pfarrbüro, auch im Caf , bei einem Spaziergang oder zu Hause. Und die Gründe, die ihm dann für einen Austritt genannt werden, seien oft sehr unterschiedlich. So sei er kürzlich einem homosexuellen Paar begegnet, das die Hoffnung gehabt habe, unter Papst Franziskus würde sich die Haltung der Kirche zur Homosexualität ändern - und jetzt enttäuscht sei.
Ein anderer Mann habe ihm erklärt, die Kirche sei ihm viel zu "grün und kommunistisch" geworden. Wie lassen sich solch gegensätzliche Positionen auf einen gemeinsamen Nenner bringen? Für den Jesuitenpater ist es die Fixierung auf die Person Jesu Christi, auf den Kern des Glaubens. "Es geht letztlich um die großen Fragen: Woher komme ich, wozu bin ich da, wie soll ich leben?" Diese Fragen holten jeden Menschen irgendwann ein, und hier habe die Kirche gute Antworten. "Das ist unsere Chance", ist Pater Hösl überzeugt - denn die Antwort auf diese Fragen heiße Jesus.
Eine kleide Herde
Ob Reformansätze wie der Synodale Weg die Austrittszahlen wieder senken könnten, sieht der Pfarrer ambivalent. Kirche könne nicht völlig getrennt existieren von der gesellschaftlichen Realität. Auch in St. Canisius werden beispielsweise homosexuelle Paare oder Wiederverheiratete gesegnet. Andererseits mache Kirche immer auch aus, dass sie einen Kontrast zur Gesellschaft biete. "Eine Kirche, die völlig in der Gesellschaft aufgeht, braucht ja keiner", meint der Pater. Den Grundtrend könne derzeit aber niemand ändern, ist er überzeugt. "Da müssen wir jetzt durch. Wir werden kleiner und entschlossener sein."
Das kann für den Berliner Generalvikar jedoch kein Endpunkt sein. Die Kirche habe den Auftrag Jesu, in alle Welt zu gehen. "Die kleine Herde kann Realität werden, aber sie kann nie das Ziel von Kirche sein", betont Pater Kollig im Gespräch.
Der Christ braucht Gemeinschaft
Dass die Austrittszahlen aktuell wieder sinken könnten, sieht auch Pfarrer Oliver Cornelius derzeit skeptisch. "Es kann nochmals Austrittswellen geben, wenn der Synodale Weg nicht umgesetzt wird", ist er überzeugt. Da könne es bei vielen Gläubigen zu Frustration kommen. Auch die rasant steigenden Energiekosten könnten dazu führen, dass Menschen sparen müssten auch an der Kirche. Und für den Kirchenaustritt gebe es zu wenige Barrieren, ein Vorsprechen beim Amtsgericht genügt. "Da ist keine Hürde, deswegen erreichen wir sie auch nicht", sagt Pfarrer Cornelius.
Ob Petra Röder diesen Schritt geht, weiß sie derzeit noch nicht. "Im Moment tendiere ich sehr stark zum Austritt", sagt sie im Gespräch. Doch vieles hält sie auch in der katholischen Kirche: Der Messritus, die Sakramente, und nicht zuletzt viele persönliche Freundschaften, die über die Jahre entstanden sind. "Der Christ braucht Gemeinschaft", ist die Berlinerin überzeugt. "Ich wüsste nicht, wo ich sonst hingehen sollte." Und sie nimmt regelmäßig an Exerzitien in einem bayerischen Kloster teil. Dort habe sie versprochen, nichts zu überstürzen: "Ich will eine Entscheidung treffen, hinter der ich langfristig stehen kann."
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