An Gestalten wie John Henry Newman, Romano Guardini oder Henri de Lubac kann man wahrnehmen, was die Kongruenz von Wahrheit, Güte und Schönheit ist. Gemeint ist die Inkarnation des Geistes. Papst Benedikt XVI. hat diese Kongruenz geradezu verkörpert. Er hat seine gelebte, durchbetete und durchdachte Christusbeziehung in jede Faser seines von den Gebrechen des Alters gezeichneten Leibes inkarniert. Wenn ich aufgefordert wäre, seinem Leben und Werk einen Titel zu geben, würde ich die Überschrift "Inkarnation des Geistes" vorschlagen. Schon unmittelbar nach seinem Tod darf man sagen: Der verstorbene deutsche Papst gehört zu den überragenden Persönlichkeiten der Kirchen- und Theologiegeschichte. Er hat den Adel des Geistes mit dem Glanz der Heiligkeit vereint.
Fast übermenschliche Schaffenskraft
Die vom Papst-Benedikt-Institut in Regensburg edierten Schriften Joseph Ratzingers dokumentieren die fast übermenschliche Arbeitskraft und Kreativität eines Denkers, der in demselben Maße fruchtbar wie bescheiden war. Ihm ging es nicht um die eigene Person, um Erfolg und Publizität. Er wollte der Kirche dienen, die Christus als den Weg, die Wahrheit und das Leben bekennt. Deshalb seine bis ins höchste Amt durchgehaltene Maxime: "ER ist es; nicht ich." Deshalb die dem päpstlichen Terminkalender mit äußerster Disziplin abgerungene Abfassung eines Jesus-Buches. Deshalb auch der Rücktritt vom Papstamt - aus der Überzeugung, dass auch der höchste Repräsentant Christi ein Mensch ist, dessen Natur von der Gnade nicht ersetzt wird.
Kritiker haben aus seiner frühen Begeisterung für Augustinus und Bonaventura eine Option für platonisches statt aristotelisches, deduktives statt induktives, sapientiales statt analytisches Denken gefolgert. Doch was ihn an Augustinus interessiert hat, ist vor allem dessen eucharistische Ekklesiologie, dessen Lehre über die Untrennbarkeit der apostolisch verfassten Kirche von Christus. Und was ihn an Bonaventura fasziniert hat, ist die Christozentrik einer Geschichtstheologie, die erklärt, warum ein einzelner Mensch in Raum und Zeit die endgültige und unüberbietbare Offenbarkeit Gottes war. Ein Platonismus nach dem Motto "Wenn die Wirklichkeit meinem Begriff nicht entspricht, umso schlimmer für die Wirklichkeit" ist kaum jemandem noch fremder gewesen als Joseph Ratzinger. Er hat für Hans Urs von Balthasar Partei ergriffen, weil dieser vom Staunen ausgeht über das, was sich zeigt. Und er hat sich von Karl Rahner distanziert, weil er in dessen transzendentalphilosophischem Ansatz die Gefahr einer Reduktion des Wirklichen auf das von uns Denkbare sah.
Das Gegenteil eines Platonikers
Seine berühmt gewordene "Einführung in das Christentum" (1968) erinnert an die in den "Confessiones" des heiligen Augustinus enthaltene Erzählung von dem Platoniker Marius Victorinus, der sich zunächst gegen die Konversion zum Christentum mit dem Argument geweigert hat, die schönsten Ideen des Christentums seien immer schon die seinen gewesen und deshalb benötige er im Unterschied zum einfachen Volk keine Veranschaulichung seiner Ideen durch Riten, Regeln und Lehrsätze. Joseph Ratzinger kommentiert: "Dass Marius Victorinus eines Tages doch der Kirche beitrat und vom Platoniker zum Christen wurde, war Ausdruck der Einsicht in den fundamentalen Irrtum, den diese Meinung bedeutet. Der große Platoniker hatte begriffen, dass Christentum nicht ein System von Erkenntnissen ist, sondern ein Weg. [ Es] gehört zum Glauben wesentlich das Bekennen, das Wort und die Einheit, die es wirkt; es gehört zu ihm das Eintreten in den Gottesdienst der Gemeinde und so letztlich jenes Mitsein, das wir Kirche nennen." (JRGS IV, 104f)
Wenn man mit dem Vorwurf des Platonismus die Vorstellung von der Elfenbeinturm-Seligkeit des einsamen Denkers verbindet, dann war der verstorbene Papst geradezu das Gegenteil eines Platonikers. Er hat sich wie kaum ein zweiter Theologe von seiner Kirche in Dienst nehmen lassen. Und seine mit Peter Seewald geführten Gespräche dokumentieren beispielhafte Realitätsnähe und zeitdiagnostische Treffsicherheit. Was er mit dem Relativismus für die größte Gefährdung des Christentums hielt, ist der Platonismus des "Interpretationschristentums". Eine Theologie, die sich den Skandal des Kreuzes durch Interpretationen vom Halse hält und das Christentum auf allgemein plausible Lebensweisheiten reduziert, war ihm ein Ärgernis. Dabei dachte er besonders an den Hochmut staatlich dotierter Theologen, die den Glauben der kleinen Leute verächtlich machen. Nicht sie, so gab er zu Protokoll, sind dumm, sondern die aufgeblasenen Wichtigtuer, die in Vorlesungen und Akademievorträgen, auf Podien und Synoden ein "modern gewordenes Christentum" propagieren; die Weihnachten vom Mythos des Gottmenschen sprechen und Ostern verkünden, dass die Sache Jesu weitergeht.
Bestimmt von einer radikalen Christozentrik
Ratzingers Theologie ist bestimmt von einer radikalen Christozentrik. Er setzt voraus, dass alles Wirkliche in Schöpfung und Geschichte Ansprache des Schöpfers an den Menschen ist. Deshalb sind die Dinge mehr als die Dinge. Sie sind nicht zu Ende erkannt, wenn man ihre chemische und physikalische Beschaffenheit beschrieben hat. Wenn alles Wirkliche durch denselben Logos erschaffen wurde, der in Jesus Christus Mensch geworden ist, dann ist irgendwie alles Geschaffene auch eine Aussage über Christus.
Der Mensch vor allem ist mehr als die Summe seiner Atome und Moleküle. Er ist die Antwort der Schöpfung an das Wort des Schöpfers. Deshalb konnte Gott die Beziehung, die er als Vater zum Sohn und als Sohn zum Vater ist, als Mensch offenbaren. Das Menschsein Jesu ist nicht die Verbergung, sondern die Offenbarkeit Gottes. Und Israel ist das Volk, das Gott im Laufe seiner Geschichte befähigt hat, sein Offenbarsein immer tiefer zu erkennen zu erkennen, was sein Wille ist; und dass sein Wille Fleisch werden will im Tun der Tora. Und die Kirche ist das Volk aus Juden und Heiden, das durch Taufe und Eucharistie den ein für alle Mal Mensch gewordenen Logos Gottes in Raum und Zeit vergegenwärtigt; das täglich mit ihm kommuniziert und so selbst zu einem von ihm untrennbaren Mittel und Werkzeug geworden ist. Es war zweifelsohne der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, der im Auftrag von Papst Johannes Paul II. 1999 das Dokument "Dominus Iesus" verfasst hat - ein denkwürdiges Dokument, weil es der ins dritte Jahrtausend schreitenden Christenheit die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und - davon untrennbar! - die Einzigkeit und Heilsuniversalität der Kirche ins Gedächtnis geschrieben hat.
Professoraler Ehrgeiz oder akademische Eitelkeit lagen ihm fern
Viele haben gefragt, warum ein Papst es für wichtiger halte, ein Jesus-Buch zu schreiben als jede Minute den täglichen Anforderungen seines Amtes zu widmen. Sein Motiv war alles andere als professoraler Ehrgeiz oder gar akademische Eitelkeit. Dergleichen lag ihm völlig fern. Nein, er wusste, warum der Papst den Ehrentitel "vicarius Christi" trägt; warum das Wichtigste des apostolischen Amtes die Verkündigung der Einzigkeit und Heilsuniversalität Christi ist. Und weil er Tendenzen und Trends wie nur wenige Zeitgenossen erspürt hat, wusste er auch, dass die gegenwärtige Krise der Kirche viel tiefer greift, als die allenthalben zu Recht beklagten und bis vor kurzem für undenkbar gehaltenen Skandale ahnen lassen. Es geht um den unverkürzten Glauben an Jesus als den Christus. Was in den Jahren nach dem Konzil mit der Trennung des Jesus der Geschichte vom Christus des Glaubens begann, wurde potenziert vom Relativismus der Pluralistischen Religionstheologie; von einer "Geist-Christologie", die Jesus als einen unter anderen Charismatikern der Religionsgeschichte erscheinen lässt; und nicht zuletzt von einer Verkündigung, die ihn zum bloßen Initiator einer bestimmten Praxis oder Ethik erklärt.
Die Wahrheit des Christentums, so will uns Papst Benedikt mit seinem Jesus-Buch sagen, hängt an der Frage, warum das Leben Jesu, sein Sterben und seine Auferstehung die Situation jedes Menschen vor ihm und nach ihm grundlegend verändert hat. Die Antwort ist die personale (hypostatische) Identität des historischen Jesus mit dem Christus des Glaubens. Diese Identität bedeutet nämlich, dass Gott selbst als der Mensch Jesus dahin gelangt ist, wo die Sünde dem Menschen zum Gefängnis geworden war. Niemand gelangt zum Vater außer durch ihn. Der Himmel, so formuliert Joseph Ratzinger in seiner "Eschatologie", ist nicht ein Ort über den Sternen, er ist etwas viel Kühneres und Größeres: Er ist die Vollendung unserer mit der Taufe begonnenen Eingestaltung in Christus.
Ein Trend, der das Christentum aushöhlt
Nicht nur das konsekrierte Brot der Eucharistie, sondern auch seine Empfänger sind "Leib Christi". Die Individualisierung und Subjektivierung der Sakramente und insbesondere der Eucharistie wurde von Papst Benedikt als ein Trend wahrgenommen, der das Christentum aushöhlt. Christus ist Selbstverschenkung. Wer ihn empfängt, muss sein wollen, was er empfängt. Es gibt keine bloß innerliche oder private Gemeinschaft mit dem Gott, der Fleisch angenommen hat. Christentum ist die Übersetzung der vertikalen Inkarnation des göttlichen Logos in die horizontale Inkarnation der Kirche. Zu den schönsten Texten der Theologiegeschichte zählen Joseph Ratzingers Eucharistische Meditationen. Darin heißt es: "Der Logos selbst ist Leib geworden und gibt sich uns in seinem Leib. Deshalb werden wir aufgefordert, unsere Leiber als logosmäßigen Gottesdienst darzubringen." (JRGS XI, 419)
Papst Benedikt hat den Leib des Herrn täglich empfangen und sich eingestalten lassen in die Selbstverschenkung des Gekreuzigten. Deshalb dürfen wir sicher sein, dass sich an ihm erfüllt hat, was Paulus mit den Worten verheißt: Christus wird "unseren armseligen Leib verwandeln in die Gestalt seines verherrlichten Leibes". (Philipperbrief 3,21)
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