Kürzlich fragte ich einen anglikanischen Freund, wie das Problem des sexuellen Missbrauchs in seiner Kirche bewältigt werde, einer Kirche, die ihren Priestern bekanntlich keinen Zölibat vorschreibt. Der Freund heißt Justin Welby, ist seit 2013 Erzbischof von Canterbury und Primas der anglikanischen Kirche. Seine Antwort: Auch die anglikanische Kirche hat das Problem. Um es zu bewältigen, sind zwei Dinge notwendig. Wir müssen wieder viel mehr und deutlicher über die Sünde reden und die Prävention intensivieren.
Missbrauch ist zurechenbare Tat verantwortlicher Einzelner
Dass ein verantwortlicher Bischof das Gespräch überhaupt auf die Sünde lenkt, zeigt eine andere Weise des Herangehens an das Problem, als sie in Deutschland nach der Veröffentlichung der MHG-Studie und dem Münchener Gutachten üblich ist. Er macht damit deutlich, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen nicht das Ergebnis von klerikalen Machtstrukturen und Systemversagen, sondern die zurechenbare Tat verantwortlicher Einzelner ist. Sexueller Missbrauch ist eine Sünde wider das Gebot der Keuschheit und wider das Gebot der Achtung der Würde von Kindern und Jugendlichen, die leibliche Integrität einschließt. Strafrechtler nennen diese Sünde Verbrechen, das eine Bestrafung und, soweit möglich, eine Wiedergutmachung erfordert.
Der Bischof legt dem Sünder Gewissenserforschung, Reue, Buße und Versöhnung nahe. Er erwartet die Bewältigung des Problems nicht von Systemreformen und einer neuen Kirche, sondern von bekehrten Sündern, die in der Lage sind, das Evangelium Jesu zu verkünden und im Leben der Kirche zu bezeugen. Dann kann er institutionelle Prävention in Angriff nehmen. Er verfällt nicht dem Marxschen Irrtum, die Aufhebung der Entfremdung des Menschen, die dieser auf die systemische Ursache des Privateigentums zurückführte, durch ein neues System zu erwarten. Das neue System nannte Marx Diktatur des Proletariats. Einen neuen Menschen hat es nicht hervorgebracht.
Der Autor ist em. Professor für Christliche Sozialwissenschaften.
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