Um 1400 wandelt sich das Weihnachtsbild grundlegend: An die Stelle der nach dem Vorbild der byzantinischen Ikone liegend dargestellten Gottesmutter tritt nun die Anbetung des nackt auf dem Boden liegenden Kindes, von dem helles Licht ausgeht. Der heilige Joseph sitzt nun nicht mehr passiv am Rand wie bisher, sondern tritt mit einer Kerze in der Hand hinzu. Wie konnte es im Spätmittelalter zu dieser Ablösung vom östlichen Vorbild kommen? Fabian Wolf hat sich in seiner 2015 von der Universität Frankfurt angenommenen Dissertation dieser Fragestellung angenommen. Seine Einsicht, dass hierbei Visionen der Schwedin Birgitta Birgersdotter (1302/4–1373) in materielle Bilder übersetzt wurden, ist nicht neu. Allerdings wurde dieser Zusammenhang bisher noch nicht mit dieser Gründlichkeit und so reichen Bildbelegen erforscht.
Als Witwe kam die achtfache Mutter nach Rom, um den von ihr gegründeten Erlöserorden kirchlich anerkennen zu lassen, den sie als Werkzeug der Kirchenreform verstand. Im August 1327 war Birgitta in der Geburtsgrotte in Bethlehem. Dort hatte sie die Vision der Geburt Christi, die sie umgehend aufgezeichnete.
Zunächst stellt der Verfasser die Vision in den Kontext der zeitgenössischen Frömmigkeit und nennt Bonaventura, Bernhard von Clairvaux, das Streben nach der Gleichförmigkeit mit Christus und auch mit der Gottesmutter als den spirituellen Hintergrund dar. In der Tradition der mystischen Gottesgeburt deutet der Verfasser auch die Weihnachtsvision: „So wie Maria im Gebet ihr Kind empfängt, ebenso empfängt Birgitta ihre Vision in der Geburtsgrotte.“ Details der Vision sind: Maria in einer weißen Tunika und einem weißen Umhang, Joseph als Greis, der eine Kerze in die Grotte bringt, Ochs und Esel. Maria zieht die Schuhe aus und legt den Mantel ab, ihr goldenes Haar wird sichtbar, sie kniet nieder, das Kind wird ohne Schmerzen geboren, und es geht eine heller Lichtglanz davon aus. Das Wickeln des Kindes in Windeln sowie die Nachgeburt und auch die Nabelschnur werden beschrieben. In drei kleineren Visionen wird die Anbetung der Hirten und die Ankunft der drei Weisen geschildert.
Insgesamt sind von Birgitta siebenhundert Visionen überliefert, die sie, einem göttlichen Auftrag folgend, aufgezeichnet und auch verbreitet hat. Analog zur Sprache, die sich überlieferter Bilder und Symbole bedient, versteht der Verfasser Visionen als „Bilddenken“, das sich ebenfalls vorhandener Motive bedient. Dabei wird der Visionsbericht durchaus als Erlebnisbericht verstanden, den es aber nach seinen literarischen und bildlichen „Quellen“ zu befragen gilt.
Überblicksartig werden die Liturgie der Kirche, die geistlichen Weihnachtsspiele, Predigten von Johannes Tauler und die typologische Schriftauslegung als Hintergrund der Visionen angeführt. Besonders aufschlussreich ist, dass Birgitta 1351/52 in Assisi das Fresko von Giotto gesehen hat, auf dem die Mitternachtsmesse des heiligen Franziskus dargestellt ist. Unzutreffend ist allerdings, dass Franziskus „die Weihnacht von einer jungen Familie mit Neugeborenem nachspielen“ ließ. Vor dem Altar in Greccio stand eine leere Krippe. Damit betonte Franziskus die Gegenwart des menschgewordenen Gottessohnes in der Eucharistie.
Interessanterweise hat ein teilnehmender Laie in einer Vision die liebende Hinwendung des Heiligen zum Kind in der Krippe geschaut, wie es die erste Franziskusbiographie berichtet. Eine „große motivische Schnittmenge“ hat die Vision Birgittas mit dem Betrachtungsbuch „Meditationes Vitae Christi“, deren früheste Fassung wohl zwischen 1299–1305 von einer Klarissin verfasst worden ist. Ab 1300 findet sich das Motiv der anbetenden Gottesmutter, das in den „Meditationes“ und auch bei Birgitta von zentraler Bedeutung ist, auch in der Malerei.
Allerdings gibt es in der Weihnachtsvision Birgittas auch zahlreiche Motive, die nicht aus dieser Quelle stammen. Im zweiten Teil der Arbeit werden die frühesten bildlichen Umsetzungen der Vision dokumentiert und nachgezeichnet, wie die Offenbarungen Birgittas in Europa verbreitet worden sind. Nach dem Tod Birgittas 1373 entstanden drei Tafelbilder des Florentiner Malers Niccolo di Tommaso, die den Visionsbericht umsetzten. Ab 1380 setzt die starke Verbreitung der Visionssammlungen ein. Nach der Heiligsprechung 1391 nehmen die Bildaufträge immer mehr zu. Eine besondere Vorliebe für die Weihnachtsvision hatte die Observantenbewegung. Von Florenz, Pisa und Lucca ausgehend entstanden Verbildlichungen als Wandfresken, Predellentafeln, Andachtstafeln und Buchillustrationen. Von Italien aus hat sich der Anbetungstypus des Weihnachtsbildes in Europa verbreitet und war ab 1430 zur neuen Standardikonographie geworden.
Parallel mit der Entstehung zahlreicher Birgittinenklöster und der rasanten Verbreitung der Visionsberichte setzt sich im Zuge der internationalen Gotik auch das neue Weihnachtsbild durch. Identifikationsfigur für den Betrachter ist dabei die auf manchen Bildern dargestellte Seherin oder die Gottesmutter selbst, die zur emotionalen Vergegenwärtigung des Abstiegs Gottes einladen, die durch den Blickkontakt zwischen Mutter und Kind vertieft wird. Mit der Überführung der Reliquien in das schwedische Mutterkloster Vadstena verlagerte sich das Zentrum der Verehrung. Eine besondere Form der Visionsdarstellung hat sich von Prag aus ab 1390 über ganz Böhmen ausgebreitet: Das Jesuskind „schwebt“ in einer großen Strahlenmandorla vor der knieenden Gottesmutter.
Ab 1405 ist das neue Weihnachtsbild mit der anbetenden Gottesmutter vor dem Kind in der Krippe in allen Kunstmetropolen Mitteleuropas etabliert. Für den Verfasser geht dieser radikale Wechsel unmittelbar auf die Wertschätzung von Person und Werk der heiligen Birgitta zurück, auf deren Visionstext die Künstler als Quelle direkten Bezug nehmen. Birgitta hat die Verbreitung des Anbetungstypus entscheidend vorangetrieben, der allerdings vor der Vision in der Geburtsbasilika in Bethlehem sowohl literarisch wie bildlich bereits vereinzelt angebahnt worden war.
Wichtig für die Deutung der Visionsbilder in der Kunst ist der Hinweis des Verfassers, dass kein Maler jemals alle Details der Vision in sein Bild aufgenommen hat. Stets stellten sie „Bildwirkung über Texttreue“. Aus theologischer Sicht hat die sehr verdienstvolle und gut lesbare Arbeit eine Schwachstelle.
Ausgehend von den verschiedenen genannten Inspirationsquellen der Vision wird eine rationale Erklärung versucht, die auch philosophisch nicht überzeugt: „Die Veränderung der Verschaltungen im Gehirn implizieren, dass die häufig imaginierte Weihnachtsgeschichte nicht nur sofort abrufbar war, sondern … oft schon ein auslösender Reiz ausreichte, damit eine ganze Abfolge von Bildern wie von selbst ins Bewusstsein gelangten.“
Auch wenn sogenannte Privatoffenbarungen keine Ergänzung oder Ausweitung der Offenbarung darstellen, so hat die Kirche doch deren Möglichkeit, Existenz und Bedeutsamkeit festgehalten. Gerade das Beispiel der Weihnachtsvision der heiligen Birgitta zeigt, welch bedeutende geistige Früchte ein solcher übernatürlicher Impuls für das Glaubensleben bis heute hervorzubringen in der Lage ist. Fabian Wolf hat mit seiner Untersuchung eine Lücke in der Erforschung der Geschichte des westlichen Weihnachtsbildes geschlossen. Alle wesentlichen Quellentexte stehen im Anhang, sowie ein Literatur-Personen- und Sachregister.
Fabian Wolf: Die Weihnachtsvision der Birgitta von Schweden. Bildkunst und Imagination im Wechselspiel. Verlag Schnell und Steiner, Regensburg 2018, 495 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-795-43253-9, EUR 87,-