Material, Erzbischof Vincenzo Paglia an den Pranger zu stellen, gibt es reichlich. Für viele eher traditionalistisch gesinnte Beobachter des Vatikans gilt er als Symbolfigur eines vermeintlichen Kurswechsels unter Papst Franziskus in Sachen Lebensschutz, Bioethik, Ehemoral und Familienpastoral. Als Großkanzler des Päpstlichen Instituts Johannes Paul II. für Studien zu Ehe und Familie sowie als Präsident der Päpstlichen Akademie für das Leben hat er tatsächlich eine „pole position“ (Startposition, A.d.R.) in der Kurie, wenn es um diese Fragen geht. Doch war Paglia wirklich glücklich, als Franziskus ihn am 15. August 2016 in diese beiden Ämter berief? Zuvor war er Präsident des Päpstlichen Familienrats, wozu ihn Papst Benedikt im Juni 2012 ernannt hatte. Der Familienrat fiel der Kurienreform zum Opfer und ging in dem neu geschaffenen Dikasterium für Laien, Familie und das Leben auf. Vielleicht hatte sich Paglia gewünscht, erster Präfekt dieser neuen Vatikanbehörde zu werden – mit der Aussicht auf einen Kardinalshut. Doch der rote Purpur rückte am 15. August vor zwei Jahren wieder in die Ferne – in den beiden neuen Positionen Paglias wird er wohl Erzbischof bleiben.
Aber Paglia kam nicht als ganz Unbekannter in den Vatikan. Er gehörte zu der Gründergeneration der Gemeinschaft Sant'Egidio und war viele Jahre deren Kirchlicher Assistent. Auch das schmeckt manchen nicht, gilt Sant?Egidio doch vielen als Ausdruck eines vagen christlichen Humanismus, der nicht darauf schaut, ob die nach Italien gebrachten Migranten Muslime oder Christen sind. Dafür ist Sant?Egidio aber sehr staatsnah – immerhin war Sant?Egidio-Gründer Andrea Riccardi Minister im Kabinett von Mario Monti. Viele fragen dann weiter, woher die Gemeinschaft denn das ganze Geld nimmt, um Flüchtlinge ins Land zu holen, Arme zu speisen und international als Friedensvermittler tätig zu sein. Da möchte manch einer gerne einmal die Bilanzen sehen.
Auch Paglia hatte mit dem Geld Probleme, und zwar in seiner Zeit als Bischof von Terni, wozu ihn Johannes Paul II. im Jahr 2000 gemacht hatte. Im juristischen Verfahren wegen eines Finanzskandals, in den Mitarbeiter des Bischofs wegen Immobilienvergehen verwickelt waren, wurde Paglia von allen Anklagepunkten freigesprochen. Die Diözese, so berichteten italienische Medien damals, hatte in seiner Amtszeit ein Defizit von 25 Millionen Euro angehäuft, das dann diskret zur Hälfte vom vatikanischen Geldinstitut IOR und zur anderen Hälfte von der Italienischen Bischofskonferenz ausgeglichen wurde.
Aber der eigentliche Stein des Anstoßes in der Zeit Paglias als Bischof von Terni war ein überdimensionales Gemälde an der Rückseite der bischöflichen Kathedrale, das Paglia bei dem weitgehend unbekannten argentinischen Maler und Schwulen-Aktivisten Ricardo Cinalli in Auftrag gab und voller homoerotischer Darstellungen ist. Das Bild zeigt einen in den Himmel auffahrenden Jesus Christus, der mit beiden Armen zwei Netze mit sich zieht, die mit teils splitternackten Prostituierten, Homosexuellen und Transsexuellen angefüllt sind. Noch bei der Himmelfahrt ist ein schwules Paar dabei, sexuelle Handlungen an sich zu vollziehen. Dass selbst bei Jesus Christus das Geschlechtsteil zu erkennen ist, soll Bischof Paglia selbst dem Künstler mit den Worten „Jesu war eine Person, ein Mensch“ zugestanden haben. Aber auch ein kopulierendes Paar zu zeigen, wollte der Bischof dann doch nicht: „Wir müssen nicht in die Extreme gehen.“ Ein entsprechendes Video mit den Aussagen des Künstlers, das die Zeitung „La Repubblica“ damals verbreitet hat, sorgte in katholischen Kreisen für Empörung. Und natürlich das Gemälde selbst. Wie sehr die homosexuelle Kultur sich im katholischen Klerus ausgebreitet hat, zeigten zuletzt wieder die Skandale in Chile, Pennsylvania und am Priesterseminar in Boston. Aber Homo- und Transsexualität im Bildprogramm einer altehrwürdigen Kathedrale verewigt zu haben, das ist das eher zweifelhafte Verdienst von Vincenzo Paglia.
So war dann auch sein Sprung an die Spitze der Akademie für das Leben mit den größten Befürchtungen verbunden – vor allem bei den Akademie-Mitgliedern, die in dem Rat eine Art Lebensrechts- oder Lebensschutz-Organisation des Vatikans sahen. Das kann eine Päpstliche Akademie aber nicht sein. Sie hat, wie alle anderen Akademien des Vatikans oder weltliche Wissenschafts-Akademien die Aufgabe, von Fachleuten Expertisen einzusammeln, die deswegen nicht katholisch sein müssen.
Als aber unter Paglia Ende 2016 alle 172 Mitglieder der Akademie für das Leben ihre Mitgliedschaft verloren, schienen sich die schlimmsten Erwartungen zu erfüllen. Doch der Gedanke, die Akademie personell auf völlig neue Beine zu stellen und nicht mehr Mitglieder auf Lebenszeit, sondern – wie an anderen Dikasterien des Vatikans üblich – nur für eine Amtszeit von jeweils fünf Jahren zu berufen, war gar nicht der von Paglia oder Franziskus, sondern ging in die Zeit des Pontifikats von Benedikt XVI. zurück. Allerdings unterlief dem neuen Präsidenten bei der Bestellung der neuen Mitglieder ein peinlicher Fehler: Zu ihnen gehörte auch der Brite Nigel Biggar, Anglikaner und Professor für Moral- und Pastoraltheologie der Universität Oxford, der sich Jahre zuvor in einer Weise zum Thema Abtreibung geäußert hatte, die mit der katholischen Lehre nicht zu vereinbaren ist.
Entlassene Mitglieder der Akademie warfen deshalb Paglia vor, er wolle die Akademie „zerstören“, wie er das auch mit dem Päpstlichen Institut für Ehe und Familie als dessen neuer Großkanzler vorhabe. Beides hat Paglia nicht getan. Aber eins ist auch klar: Das alte Familien-Institut unter seinem Präsidenten Livio Melina war ein Widerstandsnest gegen den von Franziskus gewollten synodalen Prozess zu Ehe und Familie, wie er mit dem Schreiben „Amoris laetitia“ enden sollte. Und Paglia sowie der neue Präsident Pierangelo Sequeri, ein Theologe und Kirchenmusiker, sollen das Familien-Institut auf päpstlichen Kurs bringen. Franziskus schätzt Paglia, nicht weil dieser ein ausgewiesener Theologe, sondern einfach ein umgänglicher Mensch ist, der seine Fähigkeiten, Menschen zusammenzubringen, nach dem Balkankrieg in Verhandlungen in Albanien und im Kosovo bewiesen hat. Ob ihm diese Fähigkeit hilft, den Unfrieden um die Akademie für das Leben und das Familien-Institut zu beenden, ist fraglich. Paglia ist jetzt 73 Jahre alt. Als Nicht-Kardinal hat er noch zwei Amtsjahre Zeit. Für den Vatikan ist das gar nicht viel.