Von der Mutter Jesu geht seit zweitausend Jahren eine dogmatische und spirituelle Dynamik aus. Grund genug für die Katholische Universität Valencia, sich mit einem Internationalen Mariologischen Kongress unter dem Leitwort „Caritatis Monumentum“ am Jubiläumsjahr des Erzbistums Valencia zu beteiligen. Anlass dafür war die Hundertjahrfeier der Krönung der Stadtpatronin „Unsere Liebe Frau der Schutzlosen“. Knapp zweihundert Teilnehmer, der Großteil davon junge Studenten, befassten sich kürzlich drei Tage mit der Verehrung Mariens als Schutzherrin, mütterliche Helferin, vor allem aber als Dreh- und Angelpunkt der Heilsgeschichte. Wie zentral schon die alte Kirche Marias Bedeutung im Heilsplan einschätzte, zeigte Almudena Alba López anhand der Soteriologie des heiligen Hilarius von Poitiers (315–367) auf. Als Mitarbeiterin an der Rettung der Menschen und Urheberin der vollen Menschheit Christi habe der Kirchenvater in Maria „die jungfräuliche Erde“ gesehen, aus der der Heilige Geist „den zweiten Adam“ – Christus – geformt habe.
Schönheit Mariens
Auch Erzbischof Bruno Forte (Chieti-Vasto) unterstrich den Zusammen- hang zwischen der Jungfräulichkeit Mariens und dem überlieferten Glauben an die Gottessohnschaft Jesu. Darüber hinaus rückte er die Symbolkraft des Geheimnisses der Menschwerdung mit Blick auf Maria als„totapulchra“ – ganz schön und von der Erbsünde befreit – in den Fokus. In der „Hierarchie der Wahrheiten“ gelte das Wort des russischen Schriftstellers Fjodor Dostojewskij: Die Mutter Jesu sei der Spiegel der „Schönheit, die die Welt retten werde“. Alle biblischen Aussagen über Maria lassen sich aus Fortes Sicht in einem Satz zusammenfassen: „Maria ist die Ikone aller christlichen Mysterien, die Kurzform von allem, was der dreieine Gott für den Menschen bewirkt.“
Den Glauben an die Schutzmantelmadonna sieht der Erzbischof in der Apokalypse verwurzelt. Schon die frühen Christen hätten Maria als Schutz gegen das Böse verehrt. Das neutestamentliche Bild der Apokalyptischen Frau, das in der Mondsichelmadonna beziehungsweise der Immakulata wiederkehrt und Marias Ruf als Schlangenzertreterin begründet, stützt das Vertrauen in den Sieg Marias über den Teufel. Kritikern der neuzeitliche Mariendogmen von der Unbefleckten Empfängnis (1854) und der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel (1950), die der katholischen Kirche eine „Verweltlichung“ des Christentums vorwerfen, hielt Forte entgegen: Die geschichtliche Entwicklung der neuzeitlichen Mariendogmen sei zwar ein Alleinstellungsmerkmal der katholischen Kirche, zerreiße aber das Traditionsband zwischen biblischem Glauben und dem Glauben der Kirche nicht. Die „modernen Mariendogmen“ schmälerten den Christusbezug der Gottesmutter nicht. Allerdings habe die Kirche in der Neuzeit die Folgen der Offenbarung für das Menschenbild durch Maria tiefer im Glauben erfasst.
Dass dieser Prozess nicht von der kirchlichen Hierarchie gesteuert wurde, sondern von den Gläubigen ausging, veranschaulicht die Geschichte des Gnadenbildes „Unserer Lieben Frau der Schutzlosen“. Zweimal schrieben katholische Laien in Valencia Dogmengeschichte: 1706 schworen der König und Vertreter der Stände vor dem Gnadenbild, den Glauben an die „Unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria zu verteidigen“. Und anlässlich des Silbernen Krönungsjubiläums 1948 baten die Gläubigen Valencias Pius XII. um die Verkündigung des Dogmas von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel.
Reich an Gnaden
Die Stadtgeschichte erwies sich als ergiebiger Ausgangspunkt weiterer Überlegungen. Mehrere Referenten hoben den Zusammenhang zwischen der Immakulataverehrung und dem Glauben an die Fürsprache der barmherzigen Mutter hervor: Die Gründung von Bruderschaften gründete auf dem festen Glauben des Volkes, dass die hochbegnadete Gottesmutter von Gott auch reichlich Gnaden für ihre Kinder erhält. Der Mercedarier Manuel Andrés Herrero schilderte die Ursprünge des ersten Hospitals für geistig Behinderte und psychisch Kranke auf der Iberischen Halbinsel, das zu Beginn des 15. Jahrhunderts unter dem Patronat „Unserer Lieben von Frau der Schutzlosen“ in Valencia errichtet wurde.
Als dessen Gründer gilt der Mercerdarier Juan Gilabert Jofré. Nachdem er auf der Straße einen geistes- schwachen Obdachlosen gegen Steinewerfer verteidigt hatte, forderte er die Gläubigen im Februar 1409 in einer Predigt in der Kathedrale von Valencia zum Schutz psychisch Kranker auf. Adel und Bürger ließen sich überzeugen: Im Mai 1409 öffnete das „Hospital der armen Unschuldigen“ in Valencia seine Pforten. Unter dem Patronat Mariens setzte sich die Kirche gegen den Aberglauben und die Ignoranz jener durch, die psychisch Kranke verteufelten. Gleichwohl zeigte die Diskussion, dass Magie und Aberglaube im 21. Jahrhundert nicht überwunden sind.
Eduardo Toraño López von der Kirchlichen Hochschule San Dámaso in Madrid beschrieb die Herausforderungen, die sich heute durch teuflische Besessenheit für Seelsorger ergeben. „Der Teufel existiert“ unterstrich er. Satanismus, Spiritismus und Parapsychologie stellten nicht nur in Sekten ein Phänomen dar, sondern breiteten sich auch im digitalen Raum aus. Greifen rationalistische theologische Ausgrenzungsstrategien überhaupt noch? Ein Teilnehmer nannte in diesem Zusammenhang „unseren keineswegs unschuldigen theologischen Agnostizismus“ gegenüber Exorzisten.
Lebhafter Austausch
Bereits die Esoterik erweist sich aus Sicht von Seelsorgern als Schritt in die falsche Richtung, weil sie biblische Begriffe vom christlichen Glauben abspaltet und auf diese Weise beispielsweise die neugnostische Engelmode begründet hat. Geistliche und Psychologen seien auf ständige Zusammenarbeit angewiesen. Erzbischof Forte, der in seiner Diözese Priester als Exorzisten beauftragt hat, erklärte, mehr als 90 Prozent der einschlägigen Anfragen in seinem Erzbistum benötigten die Hilfe eines Psychologen oder Psychiaters, nicht aber des Exorzisten.
Ein lebhafter Austausch entspann sich um die Frage, ob die Mariologie die Konfessionen trennt. Der anglikanische Bischof Lord David Hamid sah eine „substanzielle Übereinstimmung“ darin, dass Katholiken und Anglikaner Maria als Gottesmutter, als prophetische Gestalt und Vorbild der Christen verehrten. Problematisch aus anglikanischer Sicht sind die neuzeitlichen Mariendogmen, die zwar im Glauben der Kirche verwurzelt seien, aber nicht unmittelbar auf biblischen Texten fußen. Die anglikanische Kirche stelle an die katholische Kirche die Frage, ob die Mariendogmen von 1854 und 1950 durch biblische Aussagen ausreichend gestützt seien. Auch sei formal einzuwenden, dass sie lediglich von einem Papst, aber nicht durch ein Konzil verkündet worden seien.

Kaleidoskop an Schattierungen und Schnittmengen
Ein Konsens wäre aus Bischof Hamids Sicht jedoch denkbar, wenn die anglikanische Kirche die neuen Mariendogmen nicht buchstabengetreu akzeptierte, sondern „den Glauben, der dahintersteht“ anerkennen würde. Erzbischof Forte verwies auf das Zweite Vaticanum, das mit seiner „Rückkehr zur Heiligen Schrift“ in der Konstitution „Dei Verbum“ einen grundlegenden Beitrag für die Mariologie geleistet habe. Heike Vesper von der Fokolar-Gemeinschaft erinnerte an die Wiederentdeckung des Magnifikat in den lutherischen Gemeinschaften. Im 20. Jahrhundert seien neue evangelische Gemeinschaften mit „einer marianischen Frömmigkeit“ entstanden. Auch der lutherische Erwachsenenkatechismus trage dieser Entwicklung Rechnung.
Jenseits der dogmatischen Unterschiede bietet auch die Volksfrömmigkeit ein breites Kaleidoskop an Schattierungen und Schnittmengen innerhalb der Konfessionen. Der Hinweis eines Teilnehmers, die Gottesmutter werde in Chile als „Generalísima“ verehrt, klang in den Ohren spanischen Historiker keineswegs ungewöhnlich. Während der Napoleonischen
Kriege auf der Iberischen Halbinsel hatte auch die Schutzmantelmadonna von Valencia 1810 diesen Titel samt Generalsschärpe und Kommandostab erhalten. Dass die Heilssuche auf Pilger- und Wallfahrten zu Marienheiligtümern derzeit in den christlichen Kirchen einen Boom erlebt, steht außer Frage. Gonzalo M. Guzmán (Barcelona) stellte den inklusiven Charakter der Wallfahrtsorte heraus: Jedes Marienheiligtum sei ein Ort der Evangelisierung, der Kultur und auch der Ökumene.
Er zitierte den Altabt der Abtei Montserrat, Josep Soler OSB, demzufolge sich die Gläubigen seltener in den Pfarreien blicken ließen, aber eine Glaubenspraxis „à la carte“ suchten und Wallfahrtsorte bevorzugten. Marienheiligtümer stünden exemplarisch für offene Arme und Türen und vermittelten die Erfahrung der liebenden Mutter. Niki Papageorgiu (Thessaloniki) brachte die Heilssuche der orthodoxen Gläubigen an griechischen Marienwallfahrtsorten auf einen ökumenischen Nenner: Gebete, Lieder, Lichtersprache und Devotionalien. Marianisch geprägte Verkündigung sei, so der Tenor der Diskussion, auch ein Akt der Barmherzigkeit: Wie Maria im Magnifikat Gott lobe, so könnten auch Christen angesichts der Orientierungslosigkeit und Verwirrung heute nicht schweigen über das, was sie gehört haben und sich die Aussage des heiligen Ludwig Maria Grignion de Montfort „Durch Maria zu Jesus“ zu eigen machen.
Sub tuum praesidium
Jesús Manuel Santiago Vázquez erinnerte an die Ursprünge des ältesten Mariengebets: „Sub tuum praesidium“ („Unter deinen Schutz und Schirm“) im ägyptischen Christentum des zweiten Jahrhunderts, in dem Maria erstmals als Gottesgebärerin angerufen werde. In einem „Pulverfass doketischer und gnostischer Sekten“ hätten die Menschen ihre Zuflucht zur Mutter Jesu genommen. Die Parallelen zur Krise der Kirche heute lagen auf der Hand. Patricia Sullivan, vormalige Präsidentin der Amerikanischen Sektion der Mariologischen Gesellschaft, erinnerte daran, dass Maria eine lange Nacht durchmachen musste. Im Glauben geprüft und geläutert zu werden ohne die Garantie, geistlichen Trost zu empfangen, scheine den persönlichen Glückserwartungen, die auch Katholiken heute beseelten, zu widersprechen. Sich selbst Gott zu überlassen und nicht das letzte Wort über sein eigenes Leben haben zu wollen, zeige dagegen den wahren Vorbildcharakter Mariens für die Menschen heute.
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