Vor gut fünfzehn Jahren bin ich von der evangelischen in die katholische Kirche übergetreten, und dies nach einer buchstäblich zwanzigjährigen „Bedenkzeit“, die mit meiner ganzen Biografie verwoben ist. Für mich erscheint die Entscheidung heute als richtig, als Glücksfall – „trotz allem“. Dabei war der Übertritt vor allem geistlich begründet und erst in zweiter Linie „kirchenpolitisch“.
Zu wenig Sakramente
Schon vor gut zweihundert Jahren hat Johann Wolfgang von Goethe in Dichtung und Wahrheit (1812) festgehalten: „Der protestantische Gottesdienst hat zu wenig Fülle und Konsequenz, als dass er die Gemeinde zusammenhalten könnte; daher geschieht es leicht, dass Glieder sich von ihr absondern und entweder kleine Gemeinen bilden oder, ohne kirchlichen Zusammenhang, neben einander geruhig ihr bürgerliches Wesen treiben. So klagte man schon vor geraumer Zeit, die Kirchgänger verminderten sich von Jahr zu Jahr und in eben dem Verhältnis die Personen, welche den Genuss des Nachtmahls verlangten. (…) Fehlt es dem protestantischen Kultus im Ganzen an Fülle, so untersuche man das Einzelne, und man wird finden: der Protestant hat zu wenig Sakramente, ja er hat nur eins, bei dem er sich tätig erweist, das Abendmahl; denn die Taufe sieht er nur an anderen vollbringen, und es wird ihm nicht wohl dabei. Die Sakramente sind das Höchste der Religion, das sinnliche Symbol einer außerordentlichen göttlichen Gunst und Gnade.“
Goethe, der Protestant, der welt-religiöse, weltfromme Weise in Weimar, hat damit das Entscheidende angedeutet: den Verfall des sakramentalen Gedankens in der evangelischen Tradition.
Eine Beruhigung
Es folgt eine feinsinnige Deutung der Sakramente, die Protestanten wie Katholiken gleichermaßen zur Lektüre zu empfehlen ist, um den uns gegebenen spirituellen Reichtum neu zu verstehen und im Leben zu erschließen, insbesondere an seinen Wendepunkten, seinen Krisen.
Auch im zwanzigsten Jahrhundert war es ein Protestant, der Theologe Paul Tillich, der betont hat, der Protestantismus brauche das „ständige Korrektiv des Katholizismus und den immerwährenden Zustrom seiner sakramentalen Elemente, um am Leben zu bleiben“. Der Protestantismus arte sonst, so Tillich, „in kulturellen Aktivismus und moralischen Utopismus aus“, ja, er verliere „seinen religiösen Charakter“ (Von der bleibenden Bedeutung der katholischen Kirche für den Protestantismus 1941).
Genau das ist meine Erfahrung: Ich gehe in die hl. Messe – ich spitze zu – nicht wie in einen Vortrag, sondern wie in eine Beruhigungsübung. Hier kann ich loslassen, aufatmen. Das gilt für festliche Hochämter wie besonders für Werktagsmessen, „stille Messen“ ohne Orgel und ohne Predigt: Dahin zieht es mich, und das tut mir gut. Ich erlebe die Liturgie als ganzheitlich – ich höre, ich rieche, ich fühle und schmecke, ich singe –, als ernsthaft und gleichzeitig als lebensfroh. Die Formstrenge der katholischen Festkultur öffnet einen guten Raum, in dem ich loslassen, frei werden kann.
Sakramente sind der Grund
Ich habe bewusst an vielen Orten die Messe besucht, und ich freue mich daran, immer sofort gleichsam „da“ zu sein, da die hl. Messe in einem guten Sinne immer gleich ist. Es tut mir wohl, mich hier einzureihen. Es geht mir, einfach gesagt, nach dem Besuch der Eucharistiefeier besser als vorher und ich sehe keinen Grund, dem nicht stattzugeben.
Der Grund für meinen Übertritt und damit der Kern meiner Aussage ist: Die sakramentale Gestalt der katholischen Kirche – ihre Liturgie und die damit verbundene Gemeinschaft der Menschen – helfen mir glauben und helfen mir leben. Sie helfen mir, das Leben zu heiligen oder doch wenigstens eine Ahnung davon wachzuhalten. Dies scheint mir nicht wenig zu sein.
Den Niedergang des Protestantismus, der mich einst motivierte, meinen Platz neu zu bestimmen, beobachte ich heute mit brüderlichem Mitgefühl, nicht mit Triumphalismus, insbesondere in den östlichen Bundesländern (ich wohne in Erfurt), wo katholische und evangelische Christen, beide als kleine Minderheiten, aufeinander verwiesen sind. Die zersetzende Verschmelzung mit dem Zeitgeist und der damit verbundene Substanzverlust ist eine allgemein-gesellschaftliche Erscheinung. Parteien, auch solche, die sich christlich nennen, Verbände, Gewerkschaften, öffentlich-rechtliche Medien übernehmen die Ersatzreligionen des Zeitgeists und ihre Illusion der Selbsterlösung, heißen sie nun Gendersprache, Corona-Angst oder Klima-Apokalypse.
Schönheit und Freude
Die katholische Kirche ist Teil der Geschichte und natürlich auch davon betroffen. Dennoch kann man sehen, dass genau die Strukturen, die man ihr üblicherweise vorwirft, Beliebigkeit verhindern helfen. Dies ist gewissermaßen die „kirchenpolitische“ Seite meiner Begründung. Die katholische Kirche kann, gerade weil sie übernational ist, all dem etwas entgegensetzen, insbesondere in Zeiten der Krise: Tradition, Formschönheit, Liturgie, Festfreude, Heiligung. Deren Bewahrung wird umso wichtiger, je mehr Überlieferung überhaupt fraglich geworden ist und Konservativ-Sein an den gesellschaftlichen Rand gedrängt wird. Die Schönheit der katholischen Liturgie ist ein Gehäuse, und dieses bewahrt etwas, das alle anderen Bereiche der Gesellschaft nicht haben und haben können: die Heiligkeit des Lebens trotz seiner Infragestellung: Zusage, Lebenshoffnung und Heilung in den Brüchen der menschlichen Existenz.
Notwendigkeit der Kirche
Dies schließt eine kritische Haltung zur Kirche nicht aus. Die Kirche weist auf das Unendliche hin, sie ist es aber nicht selbst. Die Kirche darf nicht vergessen, dass sie dem Anspruch, den sie verkündet, selbst untersteht. Dies gilt allerdings für alle Kirchen und Religionsgemeinschaften, und es kann kein Grund sein, gegen sozial verfasste Kirchlichkeit überhaupt zu sein: Im Gegenteil, Strukturen bewahren Werte. Dass diese in vielen Bereichen der Gesellschaft zerfallen, unterstreicht die Notwendigkeit einer starken katholischen Kirche. Vielleicht ist insbesondere ein Konvertit berufen, eben dies zu betonen.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.