Was im Positionspapier „Gemeinsam verantworteter christlicher Religionsunterricht“ der evangelischen Kirchen und der katholischen Bistümer in Niedersachsen euphemistisch als „Weiterentwicklung“ des konfessionellen oder konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts ausgegeben wird, ist in Wahrheit ein Kulturbruch: Der christliche Religionsunterricht soll – wie es ganz offen heißt – „an die Stelle der Fächer evangelische und katholische Religion“ treten, was bedeutet, dass das in Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes festgelegte Recht der Religionsgemeinschaften aufgegeben werden soll, den Inhalt des Religionsunterrichts in Übereinstimmung mit den eigenen Grundsätzen zu bestimmen und zu erteilen. Folglich besteht auch ein Recht auf konfessionelle Homogenität der Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht.
Ein Täuschungsmanöver
Es stellt sich die ernste Frage, ob ein „Christlicher Religionsunterricht“ überhaupt verfassungskonform sein kann. Wenn in dem Positionspapier erklärt wird, der „Christliche Religionsunterricht“ solle „bekenntnisorientiert“ sein, dann erscheint das als völlig unrealistisch, schlimmstenfalls als ein Täuschungsmanöver, mit dem Kritiker zum Schweigen gebracht werden sollen.
Da es sich bei diesem Positionspapier derzeit noch um einen Vorschlag handelt, der in einem Beratungsprozess erörtert werden soll, ist es wichtig, rechtzeitig auf einzelne Aspekte einzugehen.
Die Nachricht vom Plan in Niedersachsen erreichte die Beteiligten – nämlich die Religionslehrer – im Frühjahr 2021 über die Medien, nicht etwa über ihre Kirche. Verbände aus dem Bildungsbereich, aber auch der Katholische Elternverband sind im Vorfeld nicht einbezogen worden. Das ist angesichts des weltweiten Aufrufs von Papst Franziskus zur Synodalität bemerkenswert.
Entscheidung getroffen
Zwar ist die Einführung des christlichen Religionsunterrichts Landessache, sie ist aber so weitreichend, dass sie eben nicht nur die Religionslehrer, sondern auch die katholische Bevölkerung mit Kindern und Enkeln sowie die Ausbildungsseminare, die Hochschulen und die katholischen Schulen betrifft.
Verwundert kann man auch darüber sein, dass zwar von „Vorschlag“, „Idee“, „Dialogprozess“ und „Beratungsprozess“ die Rede ist. Das klingt zunächst offen. Aber man gewinnt beim Lesen des Positionspapiers den Eindruck, dass die Entscheidung zur Einführung des christlichen Religionsunterrichts bereits getroffen ist. Das Vorgehen, etwas von dieser Reichweite in Gang zu setzen, ohne große Beratung und ohne Befragung von Institutionen und Verbänden im Vorfeld, zeugt nicht von Transparenz und auch nicht von dem Willen, die Menschen im Bistum ernst zu nehmen.
Wichtig scheint die Beleuchtung des christlichen Religionsunterrichts aus den Perspektiven der Lernenden und der Lehrenden, aus Sicht der rechtlichen Ebene, in der die Perspektive der Eltern aufgehoben ist, und aus dem Selbstverständnis der katholischen Schulen heraus.
Verfassungsrechtliche Prüfung
Bei der Einführung des christlichen Religionsunterrichts wird es im Land Niedersachsen keinen katholischen oder evangelischen Religionsunterricht mehr geben – auch nicht im katholischen Eichsfeld, nicht im katholischen Emsland, nicht an katholischen oder evangelischen Schulen. Was passiert, wenn Eltern im Land Niedersachsen gemäß Artikel 7, Absatz 3 des Grundgesetzes einen explizit konfessionellen Religionsunterricht für ihre Kinder einfordern? Wie wird man von Seiten des Bistums mit den Eltern umgehen?
Auch von offizieller Seite scheint diese Unsicherheit auf der rechtlichen Ebene geteilt zu werden, denn es wurde eine verfassungsrechtliche Prüfung vom Bistum Hildesheim in Auftrag gegeben.
Kirchliche Beauftragung
Religionslehrer haben entsprechend ihrer Konfession studiert, also eine bewusste Entscheidung für ein Studienfach in dieser Konfession getroffen. Entsprechend unterrichten sie mit der Beauftragung ihrer Kirche: mit der Missio Canonica oder auf der evangelischen Seite mit der Vocatio. Wie könnte man in einem christlichen Religionsunterricht als Vertreter der eigenen Konfession den anderen Konfessionen wirklich gerecht werden? Wie geben Religionslehrer Auskunft über ihre eigene Konfession, für die sie stehen?
Der christliche Religionsunterricht würde die Religionslehrer vor eine Herkulesaufgabe stellen: Es gilt neue schulinterne Lehrpläne auf der Basis eines neuen Curriculums zu erstellen. Neue Schulbücher würden entwickelt werden müssen, in die man sich einarbeiten muss. Veränderungen in der ersten und zweiten Ausbildungsphase würden notwendig. Die Anforderungen an die konkrete Umsetzung des christlichen Religionsunterrichts wären immens. Es droht eine Überforderung der Religionslehrkräfte durch den Spagat zwischen dem Unterricht nach dem Bekenntnis der Lehrkraft und der gleichzeitigen Berücksichtigung des religionskundlichen Anteils für die andere Konfession.
Gewinner: Das Land
Eine besorgniserregende Entwicklung auch für katholische Schulen, für die der katholische Religionsunterricht ein Proprium ist. Welche Folge hat die im Positionspapier als „Weiterentwicklung“ des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts bezeichnete Einführung für die katholischen Schulen, wenn das Proprium nicht mehr da ist?
Konkrete Vorteile haben die Schulverwaltungen beziehungsweise Schulleitungen, für die es einfacher ist, Religionslehrkräfte im christlichen Religionsunterricht einzusetzen, als mehrere konfessionelle Gruppen einzurichten. Das Land Niedersachsen gehörte zu den Gewinnern: Es sparte Lehrerstunden, denn kleinere konfessionelle Lerngruppen wird es dann nicht mehr geben.
Verlierer: Die Schüler und die Lehrer
In der praktischen Umsetzung des Vorhabens sind neben den organisatorischen und finanziellen Gewinnen von Schulverwaltung und Bundesland entscheidende Verluste für die Inhalte und damit für die Bedeutung des Religionsunterrichts zu erwarten. Als katholischer Berufsverband fragen wir uns, ob zentrale katholische Themen wie Sakramente, Heiligenverehrung, die heilige Messe und bestimmte Feste des Kirchenjahres – zum Beispiel Fronleichnam – überhaupt noch glaubwürdig vermittelt werden können. Wie soll ein Religionslehrer von den profilbildenden Elementen einer Konfession sprechen, wenn er nur angelesenes Wissen vermittelt?
Wie soll ein evangelischer Religionslehrer in höheren Klassen auf die normale Unterrichtsfrage von Schülern nach dem eigenen Glauben reagieren, wenn es zum Beispiel um die Realpräsenz geht? Denn diese und andere Fragen interessieren die Schüler unabhängig von den Themen des Curriculums – vorausgesetzt, sie hatten je die Chance, etwas davon zu hören. Die Antwort muss zwangsläufig zur Verunsicherung führen, und zwar bei Schülern und Lehrern. Solche Situationen lassen sich in zahlreichen Varianten vorstellen.
Konfessionelle Identitätsfindung
Weitere Fragen müssen erlaubt sein: Wie sollen die jüngeren Schülerinnen und Schüler eine Beheimatung im eigenen Glauben finden, wenn es vorwiegend um gemeinsame soziale Projekte, gute menschliche Beziehungen und reine Wissensvermittlung zu konfessionellen Inhalten geht?
Gerade in der Zeit der Erstkommunion kommen Fragen und Themen auf, die neben der kirchlichen Vorbereitung überzeugt und sachgerecht auch im Religionsunterricht beantwortet werden müssen. Und wie sollen Unterscheidungsmerkmale erkannt werden können, wenn keine konfessionelle Identitätsfindung mehr stattfinden konnte? Eine kritische Auseinandersetzung wird es nicht mehr geben, denn dazu braucht es zunächst einen Standpunkt.
Gerade in Zeiten, in denen religiöse Grundkenntnisse in beiden Konfessionen verdunsten, ist es verantwortungslos, die oftmals noch einzige Möglichkeit der Gegensteuerung im Rahmen des konfessionellen Religionsunterrichts aufzugeben.
Die Verfasserin ist Stellvertretende Bundesvorsitzende des Vereins katholischer deutscher Lehrerinnen.
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