Der Christ hat in einer Katastrophe nichts zu verlieren“, stellte der kolumbianische Denker Nicolás Gómez Dávila (1913-94) einst lapidar fest. Zieht man die Linien bis zur bröckelnden Fassade der Volkskirche aus, zeigt sich: Er hat die nachkonziliaren Untergangserfahrungen zutreffend entdramatisiert. Im deutschsprachigen Raum spielt sich der religiöse Abbruch vor allem in Pfarreien und Klöstern ab. Seit fünfzehn Jahren stecken manche Bistümer in einem teilweise nervenaufreibenden Strukturwandel. Mit der Auflösung und Zusammenlegung von Pfarreien wächst die räumliche Distanz zwischen Herde und Ortspfarrer, im besten Fall aber auch die Eigenverantwortung der Gläubigen. Aus der Erkenntnis, dass sich das Gottesvolk keine Konsumentenhaltung mehr gegenüber dem Pfarrer leisten kann, sprießen neue Initiativen.
Was gestern neu war, bewährt sich inzwischen. Theresia Theuke, Autorin des Buchs „Die Kirche lebt“, hat während eines USA-Aufenthalts christliche Hauskirchen kennengelernt. Das Modell funktioniert auch im Westerwald: In Limburg an der Lahn hat die Mutter von fünf Kindern mit ihrer Hauskirche die Erfahrung gemacht, dass der christliche Glaube „da lebendig wird, wo Menschen ihre Häuser und Wohnungen für die Begegnung mit Christus und mit anderen öffnen“. In einer zunehmend säkularisierten Welt, so Theresia Theuke, brauchten getaufte Christen Orte, an denen sie sich sicher fühlen, den Glauben teilen und in ihm wachsen könnten. Gleichzeitig verlange die Hauskirche mehr Eigeninitiative und Mitverantwortung: „So erhält die Kirche neue missionarische Strahlkraft.“
Immer mehr Katholiken sind bereit, von der Diaspora zu lernen. „Ich brauche keine volle Kirche“, heißt es mitunter, wenn man Katholiken in Ostdeutschland fragt. In der Diaspora sind zwar die Bankreihen leerer, der Sonntagsmessbesuch mitunter aber prozentual höher ist als in traditionell katholischen Gegenden. Dem schläfrig gewordenen Konventionschristentum stehen vitale kleine Zellen gegenüber. Auch die traditionellen Orden haben den spirituellen Charme der „Cella“ erkannt und gründen nun im kleinen Stil – trotz des Nachwuchsmangels in den großen Abteien. Die Benediktiner auf der Insel Reichenau und die Liobaschwestern auf dem Fuldaer Petersberg erreichen mit überschaubaren Konventen an Orten mit reicher monastischer Tradition nicht weniger Menschen als schrumpfende Kommunitäten in überdimensionalen Immobilien.
Neue Formen nach der Volkskirche
Wie eine junge Gemeinschaft das Erbe eines traditionellen Ordens überzeugend weiterführen kann, ist im Wallfahrtsort Neviges bei Wuppertal zu sehen. 345 Jahre betreuten die Franziskaner die Wallfahrtsseelsorge. Dann fehlte ihnen der Nachwuchs, um das Kloster zu behalten. Das Erzbistum gewann die französische Priestergemeinschaft St. Martin für Neviges. Seit Herbst 2020 arbeiten dort mehrere Geistliche und geben der Wallfahrt Auftrieb. Wallfahrtsleiter Abbé Thomas Diradourian äußert sich gegenüber dieser Zeitung zuversichtlich. Das geplante Ende der Volkskirche, die aus Jahrhunderten hervorgegangen sei, in denen der christliche Glaube und die christliche Moral selbstverständlich waren, werde neue Formen christlichen Lebens hervorrufen. „Vieles muss noch erfunden werden, aber die Erfahrungen der Missionsländer und jener entchristlichten Länder, in denen dynamische Gemeinschaften an einer neuen Evangelisierung arbeiten, können uns einige Ideen liefern“, erklärt er.
Eine davon sei die Entwicklung von spirituellen Zentren. Ein geistliches Zentrum wie Neviges solle zu einem Ort werden, an dem versucht wird, die Lehre des Evangeliums mit Freude und Konsequenz zu leben und auf die tiefen geistlichen Bedürfnisse der Menschen dieser Zeit einzugehen: „das geheime Streben nach Trost, Geborgenheit, Anerkennung, Befreiung oder Heilung“. Es sei, so Abbé Thomas, immer ein Schrei nach spiritueller Hilfe, der sich hinter den moralischen oder politischen Aufforderungen an die Kirche verberge, auf die gesellschaftlichen Veränderungen unserer Zeit zu antworten. Er betrachtet es als Mission der Kirche, eine „wahrhaft innere Antwort auf all diese Herausforderungen zu geben, das heißt eine Antwort, die dem Geist Christi entspricht und zur persönlichen Erkenntnis Christi führt“.
Volksfrömmigkeit spielt eine zentrale Rolle
Die Chance, dass sich Pfarreien und geistliche Zentren gegenseitig bereichern, liegt für ihn auf der Hand: „Geistliche Zentren werden auch die Pfarreien unterstützen, indem sie sie durch ihre geistliche Dynamik stärken und ihnen helfen, die tieferen Herausforderungen der heutigen Evangelisierung zu begreifen.“ Was Abbé Thomas in der protestantisch geprägten Region Mettmann anstrebt, ist kein Einzelfall. Auch in traditionell katholischen Gegenden befasst sich die katholische Kirche mit geistlichen Zentren. Eine herausragende Rolle spielt dabei die Volksfrömmigkeit. Kürzlich twitterte der Erzbischof von Sevilla, José Ángel Saiz Meneses, er habe mitten im August Besuch aus dem fernen Sydney erhalten. Weihbischof Richard Umbers und ein Mitarbeiterteam des Erzbistums Sydney informierten sich bei einem Besuch in Südspanien mehrere Tage über die traditionsreichen Bruderschaften Sevillas. Während der Karwoche und zu Marienfesten organisieren sie Prozessionen und Wallfahrten. Die Mitgliedschaft ist oft eine Familienangelegenheit; die Jungen treten in die Fußstapfen von Eltern und Großeltern. In Westeuropa, so ein spanischer Kommentator, sei die Volksfrömmigkeit inzwischen die stärkste Bremse der Säkularisierung. Warum?
Auf Wallfahrten bilden sich Wahlverwandtschaften, die vielen Gläubigen in den Pfarreien heute nicht selten abgehen. Je geringer die Aussicht, Gleichgesinnte in der Territorialgemeinde kennenzulernen, umso wichtiger werden Pilgerreisen. Wenn sich bei Weltjugendtagen zehn bis fünfzehn Jugendliche für eine Woche zu einer Gruppe zusammenschließen, bedeutet das an sich für viele ein Gemeinschaftserlebnis, das sie in ihren Pfarreien nie kennengelernt haben. Der familiäre Charakter kleiner Gebetsgemeinschaften lässt Laien und gottgeweihte Christen zusammenwachsen. Schwester Marion aus der Gemeinschaft „Das Werk“ gehört zu den Domschwestern im Bistum Limburg. Die kleine Kommunität lebt in einem Einfamilienhaus mit Hauskapelle im Schatten des Limburger Doms und ist in wenigen Jahren eine bekannte Adresse unter den Gläubigen der Region geworden. „Gerade durch das Klein-Sein sind wir sehr flexibel, und so steht das Domschwesternhaus allen Menschen offen“, berichtet sie im Gespräch mit dieser Zeitung. „Daher kann die Gastfreundschaft, die Klöster schon immer ausgezeichnet hat, unkompliziert gelebt werden.“
Wie es dem Charisma des „Werkes“ entspricht, lebt die Kommunität die verschiedenen Elemente ihrer Sendung: das kontemplative Leben sowie die apostolische Wirksamkeit in der geistlichen Vater- und Mutterschaft mitten in der Welt. Für Schwester Marion sind die kleinen Zellen ein Zeichen der Zeit: „So, wie die großen Klöster als ,Oasen‘ inmitten der Wirrnisse der Zeit ihre Bedeutung haben, so auch die kleinen Kommunitäten, weil sie noch näher bei den Menschen sind.“
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