Missbrauchsvorwürfe

Macht, Mystik und Erotik

Erneut stehen mehrere internationale geistliche Gemeinschaften in Frankreich im Fokus der Missbrauchsaufarbeitung.
Johannes Paul II. empfängt Jean Vanier
Foto: VATICAN MEDIA /CPP / IPA via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | 1984 empfing Papst Johannes Paul II. Jean Vanier und die Brüder Philippe. Mit Lügen, Verschleierung und Ungehorsam erschlichen sich die Täter den Weg zurück ins Herz der Kirche.

Nachdem die letzten zwanzig Jahre den stinkenden Sumpf des sexuellen Missbrauchs inmitten der Kirche nur zögernd freigelegt haben, scheint das klare Wasser der Wahrheit nun endlich den Schmutz der Jahrzehnte auch noch aus den letzten Ecken zu spülen. Für viele Katholiken überwiegen im Moment noch Ekel und Abscheu die Zuversicht auf einen baldigen erfolgreichen Abschluss der Missbrauchsaufarbeitung in der Kirche. Seit Januar richtet sich die Aufmerksamkeit erneut auf geistliche Gemeinschaften in Frankreich: die Gemeinschaft der Seligpreisungen, die Johannesbrüder und die internationale Organisation der Arche. Die neuen Erkenntnisse zu teils bereits bekannten Taten zeigen, wie Lügen und Ungehorsam seitens der Täter und mangelnde Wachsamkeit und Konsequenz seitens kirchlicher Autoritäten in die Katastrophe führen konnten.

Ungeklärte Missbrauchsfälle

Am 14. Januar berichtete das Wochenmagazin der katholischen Tageszeitung „La Croix“ von Missbrauchsfällen in einem Jungeninternat der Gemeinschaft der Seligpreisungen in Autrey in den Vogesen. Für den Zeitraum zwischen 1988 und 2007 konnte das Magazin zehn Betroffene sexuellen Missbrauchs durch zwei Priester der Gemeinschaft ermitteln. Einer der beiden, Pater Dominique Savio, der sich heute Pater Martin de Tours nennt, war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Mitte Januar stellvertretender Leiter der Gemeinschaft.

Bereits 2011 hatten mehrere ehemalige Schüler Anzeige gegen Dominique Savio erstattet, die staatsanwaltschaftliche Ermittlung wurde jedoch damals eingestellt. Kirchlicherseits geschah zu dem Zeitpunkt nichts. In Reaktion auf den Bericht erklären die aktuellen Leiter der Gemeinschaft nun, dass eine kanonische Voruntersuchung in Auftrag gegeben ist und sich Pater Martin alias Dominique Savio bis zu deren Ergebnis von seinen Ämtern zurückgezogen hat.

Jugend in der Obhut von Missbrauchstätern

Bei dem zweiten Priester handelt es sich um Pater Henri Suso, der ebenfalls seinen Namen geändert hat und als Marie-Bernard d'Alès 2009 Priester des Bistums Fréjus-Toulon geworden ist. In einer Stellungnahme erklärt das Bistum, 2012 auf die Anzeige eines ehemaligen Schülers hin eine kirchenrechtliche Sanktion gegen Pater Henri Suso verhängt zu haben, die ihm unter anderem verbot, sich Personen unter 25 zu nähern. „La Croix“ deckt auf, dass Pater Suso schon ab 2016 entgegen den gegen ihn verhängten Sanktionen vom Bistum selbst zum Seelsorger einer Strafvollzugsanstalt ernannt worden ist.

Deutlich stärkere Nerven erfordert die Lektüre des am Montag erschienenen Berichts einer Studienkommission im Auftrag der internationalen Arche zu deren Gründer Jean Vanier und dessen geistlichem Ziehvater Thomas Philippe. Bereits 2020 hatte eine erste Veröffentlichung über die dunkle Vergangenheit Jean Vaniers und des Dominikaners Thomas Philippe die internationale Gemeinschaft der Arche erschüttert. Die daraufhin in Auftrag gegebene 900-seitige Studie zur Untersuchung der Gründungsgeschichte identifiziert nicht nur 25 (erwachsene) Frauen, die zwischen 1952 und 2019 intime oder sexuelle Akte durch Jean Vanier erfahren haben, sondern legt vor allem die perversen Mechanismen offen, die dazu führen konnten, dass die Taten Thomas Philippes und Jean Vaniers jahrzehntelang unentdeckt und ungeahndet bleiben konnten.

Prophetische Aura, Lügen und Ungehorsam

Dazu beigetragen hat die prophetische Aura, die Thomas Philippe und später Jean Vanier umgab. Beide missbrauchten ihre Stellung als geistliche Leiter, um die ihnen Anvertrauten mit einem erotisch-mystischen Gedankengebäude, in dem der Missbraucher die Stellung Jesu einnimmt, zu sexuellen Akten zu bewegen. Dabei schreckte Thomas Philippe nicht vor einer blasphemischen Mystifizierung sexueller Handlungen zurück.

Geheimhaltung, Lügen und Ungehorsam gegenüber vatikanischen Auflagen begleiten fortan den Lebensweg der beiden Männer. Ihren Ungehorsam rechtfertigen sie mit der Überzeugung, als besonders erleuchtete Mystiker göttlichen Willen unmittelbarer und unabhängig von der Kirche erkennen zu können.

Sünde mit guten Absichten verdeckt

Der Bericht beschreibt die sektenähnlichen Züge der Gruppe um Thomas Philippe und kommt zu dem Ergebnis, dass die Gründung der Arche durch Jean Vanier einen Vorwand dazu lieferte, sich entgegen vatikanischen Verboten erneut um Thomas Philippe zu versammeln. Trotzdem habe auch von Anfang an die „aufrichtige Absicht [bestanden], sich Menschen mit Behinderungen zu widmen“. Aufgrund des raschen Hinzukommens zahlreicher weiterer Personen und einer Einbindung der Lebensgemeinschaften der Arche in die Kontrolle öffentlicher Behörden habe sich der sektiererische Kern jedoch in der Arche nicht ausbreiten können.

Trotzdem mahnen die Studienverfasser zur Wachsamkeit, denn es könne nicht mit Sicherheit festgestellt werden, ob eine der Personen, die Jean Vanier „eingeweiht“, das heißt missbraucht hat, ihrerseits dessen mystisch-sexuelle Praktiken weitergegeben habe. In einem Schreiben an die Mitglieder der Organisation verurteilen die Leiter von „L'arche Internationale“ erneut die Handlungen Jean Vaniers und Thomas Philippes und bitten die Opfer um Verzeihung. Dabei betonen sie, dass die Arbeit der Studienkommission nicht vermuten lässt, dass auch Menschen mit Behinderung innerhalb der Arche Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sein könnten.

Trotz Sanktionen blieben Täter unbehelligt

Ein ebenfalls am Montag veröffentlichter Bericht, der durch die französische Dominikanerprovinz in Auftrag gegeben worden war, beschäftigt sich mit der Frage, wie die Dominikanerpater und leiblichen Brüder Thomas Philippe und Dominique-Marie Philippe, der Gründer der Johannesbrüder, auch nach ihrer Verurteilung 1956 und 1957 jahrzehntelang vom Orden unbehelligt ihr Unwesen treiben konnten. Die Fälle werfen ein bezeichnendes Licht auf die Versäumnisse kirchlicher Stellen. Obwohl alle Täter früher oder später einmal auf dem Radar kirchlicher oder säkularer Autoritäten gewesen waren, blieben sie jahre- oder gar jahrzehntelang unbehelligt. Pater Marie-Dominique Philippe konnte 1975 die Johannesbrüder gründen, nachdem er 1957 mit kirchlichen Sanktionen belegt worden war, die jedoch nie öffentlich gemacht wurden.

Pater Thomas Philippe war zwar 1956 mit der nach der Laisierung härtesten Sanktion des Kirchenrechts belegt worden – ein Verbot der öffentlichen und privaten Ausübung seines Priesteramtes – , dies scheint aber über die Jahre durch die verantwortlichen kirchlichen Stellen nach und nach „vergessen“ worden zu sein. Auch waren die Gründe für seine Verurteilung nie offengelegt worden, weshalb sich sein Ruf als zu Unrecht verurteilter Heiliger überhaupt aufrechterhalten konnte.

Fehlende Wachsamkeit seitens der Kirche

Dank der Wachsamkeit des Ermittlers im frühen Fall Thomas Philippe, dem späteren Kardinal Paul Philippe, war Jean Vanier als „fanatischster Schüler Philippes“ zwar zeit seines Lebens die Priesterweihe verweigert geblieben. Für einen genaueren Blick auf seinen Lebenswandel an der Spitze der Arche reichte es aber auch hier nicht. Die Gemeinschaft der Seligpreisungen und das Bistum Toulon müssen sich vorwerfen lassen, im Fall der Internatspriester trotz der vor über zehn Jahren erstatteten Anzeigen damals keine Anstrengungen unternommen zu haben, um weitere mögliche Opfer zu identifizieren.

Unklare Verantwortlichkeiten, fehlende Wachsamkeit und Reaktivität, im Geheimen auferlegte Sanktionen: Über diese systemischen Faktoren hat das Präsidium der französischen Bischofskonferenz im Dezember mit dem Heiligen Vater und den Chefs der Glaubens- und der Bischofskongregation gesprochen. Deutlich wird in den vorgelegten Berichten gleichzeitig immer wieder: Jedes System mag Schwachstellen haben, die es konsequent zu identifizieren und zu verbessern gilt. Zu Missbrauch kommt es aber, wenn konkrete Akteure durch konkrete Handlungen persönliche Schuld auf sich laden und dabei die Schwachstellen des Systems rücksichtslos ausnutzen.

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Franziska Harter Jesus Christus Kirchenrecht Priesterweihen

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