Falls es noch eine Bestätigung brauchte, so ist sie jetzt da: 55 Prozent der Katholiken möchte bei Problemen nicht mit jemandem von der Kirche reden beziehungsweise tut dies nicht. Bei der deutschen Gesamtbevölkerung sind es 63 Prozent. Die Kirche hat für eine Mehrheit der Katholiken in Deutschland jegliche Relevanz im täglichen Leben verloren.
Im Zweifel hilft der Pfarrer nicht mehr
Zu Don Camillos Zeiten war auch für Nicht-Kirchgänger klar: im Zweifel hilft der Pfarrer. Heute ist der Pfarrer offenbar selbst für die meisten Katholiken der letzte, dem man Problemlösekompetenz in lebenswichtigen Fragen zutraut. Der Missbrauchsskandal mag die Tendenz deutlich verstärkt haben, sie war jedoch sicherlich bereits vorher da. Kirchenkritiker mögen sich durch diese Zahlen im Ruf nach überfälligen Strukturreformen und Anpassungen an den Zeitgeist bestätigt fühlen. Diese Lesart erklärt allerdings nicht, warum Menschen in Regensburg und Passau laut Kirchenstatistik 2021 seltener aus der Kirche austreten als in „Reform-Bistümern“ wie Hamburg und München. Vielleicht sehnen sich die Menschen doch nach mehr als nach einer grünen, geschlechtergerechten Mitmachkirche und haben oft die Hoffnung auf eine lebensverändernde Begegnung in ihr schon aufgegeben.
Man erinnere sich an den mitleiderregend zaghaften Versuch des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, in Reaktion auf die dramatischen Kirchenaustrittszahlen an „das Plus von Kirche“ zu erinnern: Da ging es um Caritas, Bildung, „Schöpfungsverantwortung“ und das „menschliche Miteinander“. Ja, kirchliche Angestellte und Ehrenamtliche leisten an vielen Orten einen unschätzbaren Dienst an den Menschen. Nur ist die Kirche seit Langem nicht mehr die einzige Institution, die sich um all diese Dinge sorgt. Darüber dürfen Christen – und nicht nur sie – sich herzlich freuen.
Gleichzeitig bedeutet das auch: Niemanden zieht es zurück in die Kirche, weil der Bischof endlich einen Elektrowagen fährt und die historischen Kirchendächer unter Solarzellen versteckt sind. Kein Mensch wird hellhörig, wenn ein Kirchenvertreter ein Attentat verurteilt, sozialen Wohnungsbau begrüßt oder sich gegen Atomkraft ausspricht.
Das wirkliche „Plus von Kirche“ ist das Kreuz
Das wirkliche „Plus von Kirche“ ist das Kreuz. Christi Opfer, sein Tod für uns und seine Auferstehung sind der einzige Grund, warum die Kirche existiert. Von Jesu Nachfolgern sollte die Welt nicht (nur) einen Solidarschirm erwarten dürfen, sondern (vor allem) Antworten in existenziellen Notsituationen, in denen mensch mit menschlichen Mitteln nicht mehr weiter kommt: Sinnsuche, Konfrontation mit Leid, Schuld, Angst und Tod.
Befreiung durch Sündenvergebung und Hoffnung auf die Ewigkeit sind vielerorts nicht mehr im Angebot, stattdessen bieten sich dem Suchenden ein Katalog der Klimasünden sowie Abstands- und Hygieneregeln. Wem brennt da das Herz in der Brust? Kein Wunder, dass die Kirche nicht mehr als kompetent betrachtet wird, wenn es um mehr geht als um Gendern in kirchlichen Stellenausschreibungen.
„Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst, er nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten.“ Wenn die Kirche den Menschen diese anspruchsvolle und zugleich zutiefst tröstliche Botschaft vorenthält, hat sie fertig.
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