Zum Tod Benedikts XVI.

Im Angesicht der Engel singen

Das Reden mit Gott und das Singen von Gott ist der Quellgrund für die große abendländische Kirchenmusik, davon war Papst Benedikt XVI., selbst ein „Mozart der Theologie“, überzeugt.
Benedikt XVI. mit Orchester
Foto: imago stock&people | Ein Freund und Verfechter geistlicher Musik: der verstorbene emeritierte Papst Benedikt XVI. 2011 bei einem Konzert eines asturischen Orchesters.

Es gibt nur wenige Päpste in der zweitausendjährigen Geschichte der Kirche, die sich so umfassend und in so tiefgründiger Weise mit dem Singen und Spielen vor Gott auseinandergesetzt haben wie der verstorbene Papst Benedikt XVI. Dass er das tönende Gotteslob immer wieder thematisierte und Menschen allerorten an seinem Nachsinnen darüber teilhaben ließ, verstand der Pontifex als Teil seines Verkündigungsauftrags. Nichts ist im Leben eines Christen so bedeutungsvoll, so wegweisend und zielführend wie das Einstimmen in den Gesang der Chöre der Engel. Der heilige Benedikt von Nursia, dessen Regel der Papst so oft zitierte, ermahnte seine Mönche, dem Gotteslob nichts vorzuziehen und sich stets bewusst zu sein, dass sie im Angesicht der Engel singen und spielen.

Dabei geht es im Kern, wie Papst Benedikt bei einer Begegnung mit Vertretern der Kultur im Collège des Bernardins am 12. September 2008 in Paris betonte, darum, „dem höchsten Maßstab ausgesetzt zu sein: so zu beten und zu singen, dass man in die Musik der erhabenen Geister einstimmen kann, die als die Urheber der Harmonie des Kosmos, der Musik der Sphären galten. Von da aus“, so führt Papst Benedikt XVI. weiter aus, „kann man den Ernst einer Betrachtung des heiligen Bernhard von Clairvaux verstehen, der ein von Augustinus überliefertes Wort platonischer Tradition gebraucht, um über den schlechten Gesang von Mönchen zu urteilen, der für ihn offenbar keineswegs ein letztlich nebensächliches kleines Unglück war. Das Durcheinander eines schlecht durchgeführten Gesanges bezeichnet er als Absturz in die ,Zone der Unähnlichkeit‘ – die ,regio dissimilitudinis‘“.

Es ist kaum auszudenken, was dieser in aller ihm eigenen Bescheidenheit von Papst Benedikt in Erinnerung gerufene Anspruch für den Gemeindegesang im Gottesdienst bedeutet. Selbsterfahrung, die heute von so vielen verzweifelt gesucht wird, ist nur möglich in der Begegnung mit dem liebenden Gott. Sie aber setzt eine Haltung des aufmerksamen Hörens voraus, eine Weitung des Blicks, durch die jeder Einzelne von uns die Engel wahrzunehmen vermag, die um uns sind und die ihnen eigene Aufgabe des immerwährenden Gotteslobes erfüllen, an der teilzuhaben auch wir eingeladen sind. „Die Kultur des Singens“ ist, wie der Pontifex stets betonte, „auch Kultur des Seins“, in der jeder, der in das Gotteslob einstimmt, „dem Anspruch auf wahre Schönheit entsprechen“ muss.

Wachsam mit den Ohren des Herzens

Dieser Anspruch „des Redens mit Gott und des Singens von Gott mit den von ihm selbst geschenkten Worten“, davon war Benedikt XVI. überzeugt, ist der Quellgrund für die große abendländische Kirchenmusik. Deren großen Komponisten ging es, ebenso wie Papst Benedikt selbst, niemals darum, sich selbst ins Scheinwerferlicht zu stellen oder sich an ihrer persönlichen Kreativität zu ergötzen. „Es ging vielmehr darum“, wie der Pontifex den Kulturvertretern im Collège des Bernadins bewusst zu machen suchte, „wachsam mit den ,Ohren des Herzens‘ die inneren Gesetze der Musik der Schöpfung selbst, die vom Schöpfer in seine Welt und in den Menschen gelegten Wesensformen der Musik zu erkennen und so die gotteswürdige Musik zu finden, die zugleich dann wahrhaft des Menschen würdig ist und seine Würde rein ertönen lässt.“

Das tief verwurzelte Bewusstsein für die Notwendigkeit des Singens im Angesicht der Engel führte Papst Benedikt zu jener befreienden Erkenntnis, die er in einer Ansprache bei einem Konzert am 8. April 2008 so formulierte: „Es besteht eine geheimnisvolle und tiefe Verwandtschaft zwischen Musik und Hoffnung, zwischen Gesang und ewigem Leben: Nicht umsonst stellt die christliche Überlieferung die Seligen beim Chorgesang dar, von der Schönheit Gottes hingerissen und verzückt. Aber die wahre Kunst, ebenso wie das Gebet, entfremdet uns nicht von der täglichen Wirklichkeit, sondern führt uns vielmehr zu ihr hin, um sie zu ,bewässernund gedeihen zu lassen, damit sie Früchte des Guten und des Friedens trägt.“ Gott, so formulierte Benedikt XVI. es bei einer Generalaudienz im selben Jahr, lässt sich vor allem dann finden, wenn man ihn lobt, mehr noch, als wenn man nur über ihn nachdenkt. Deshalb stand die Feier der Liturgie für den verstorbenen Papst so unzweifelhaft im Mittelpunkt allen kirchlichen Tuns. Er war sich bewusst, dass sie nicht etwas von Menschen Konstruiertes ist, ein erfundenes Ritual, „um während eines bestimmten Zeitraumes eine religiöse Erfahrung zu machen, sie ist das Singen mit dem Chor der Geschöpfe und das Eintreten in die kosmische Wirklichkeit selbst. Und gerade so wird die scheinbar nur kirchliche Liturgie weit und groß, sie wird zu unserer Vereinigung mit der Sprache aller Geschöpfe.“

„Für das Beten vom Wort Gottes her reicht das Sprechen nicht aus“

Es ist bemerkenswert, dass gerade in den letzten Jahren der Amtszeit Papst Benedikts seine öffentlichen Äußerungen zur Kirchenmusik so stark zunahmen. Intensiv mahnend erinnerte er immer wieder in Ansprachen und Homilien, bei Begegnungen mit Kulturschaffenden, anlässlich von Konzerten, bei Audienzen und Gottesdiensten an die formende Kraft des gesungenen Gotteslobes. Die Fähigkeit des Mitsingens und Mithörens kommt in dem Maße abhanden, so erinnerte er in seiner Homilie in der Mitternachtsmette am 24. Dezember 2007, in dem wir Christen das Gotteslob vernachlässigen, das uns die Begegnung mit Jesus Christus erschließt, der das erlösende „effata“ zu uns spricht.

Das nachdrückliche Bestehen auf dem gesungenen Gotteslob ist biblisch begründet. Sowohl das Alte als auch das Neue Testament lassen keinen Zweifel daran, dass ein dumpfes Gemurmel dem Anspruch, in die Chöre der Engel einzustimmen, nicht genügt. Der dreimalige Sanctus-Ruf der Seraphim, den der Prophet Jesaja miterleben durfte, wurde ebenso gesungen wie das Gloria der himmlischen Heerscharen, das den Hirten auf dem Felde die Begegnung mit den tönenden Sphären erschloss. Das Wort Gottes erreicht seine höchste Bestimmung nur im Gesang. „Die Psalmen enthalten immer wieder Anweisungen auch dafür, wie sie gesungen und mit Instrumenten begleitet werden sollen. Für das Beten vom Wort Gottes her reicht das Sprechen nicht aus. Es verlangt Musik“, betonte der Papst 2008 in Paris. In den frühen Schriften Joseph Ratzingers lässt der damals schon eng mit der Kirchenmusik verbundene Priester keinen Zweifel daran, dass nicht jede Musik für die Liturgie geeignet ist. Davon wich er nie ab, aber seine späten Äußerungen, wie etwa in seiner Ansprache an die Vertreter der Hochschule für Katholische Kirchenmusik Regensburg am 30. September 2007, zeigen eine geistige Weite, die aus dem Wechselspiel seiner unlösbaren Bindung an das tiefste Geheimnis Gottes und der daraus entspringenden inneren Freiheit entströmen. Der Papst sagte damals: „Wir singen zuerst für dieses Du – für den Einen. Aber singen und spielen (,psallere‘ ist an sich ein instrumentenbegleitetes Singen), nicht nur als Individuen, sondern im Einklang mit dem großen Gesang von Himmel und Erde, mit dem Gesang aller Zeiten. Das bedeutet dann für die Kirchenmusik, so wie sie sich an diesem Gott, der Logos und Liebe ist, orientiert und von ihm inspirieren und berühren lässt, dass sie sich auch hineingenommen weiß in das große Singen der Jahrhunderte, in das Singen der vergangenen Chöre wie der künftigen, auf die sie sich ausspannt.

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Hineingeben in die große Symphonie des Wir

Daraus ergibt sich, wie mir scheint, sowohl die Bindung wie die Freiheit der Kirchenmusik: Die Bindung besteht nicht so sehr in äußeren Rechtsvorschriften als darin, dass wir uns diesem Du zuwenden, von ihm uns formen, reinigen und erleuchten lassen, und uns damit zugleich in die große Symphonie des Wir hineingeben und in ihr versuchen, keine Misstöne zu bringen, sondern zu bereichern und auszuweiten. Diese Bindung ist zugleich Freiheit, denn wir singen nicht nur mit der Kirche der Vergangenheit, sondern auch mit der Kirche der Zukunft. Deswegen ist das Schöpferische und Weite immer wieder angefragt. Die Wegweisung, die es vom Du Gottes und vom Wir der Gemeinschaft der Heiligen her empfängt, verengt nicht, sondern gibt die Inspiration, die zu wahrer Kreativität nötig ist.“

Papst Benedikt ging es letztlich darum, die Menschen dazu zu verlocken, sich bei ihrem Gotteslob der Anwesenheit der Engel so sehr bewusst zu sein, dass sich in uns das Wunder der Öffnung des „Ohrs des Herzens“, von dem der heilige Benedikt in seiner Regel spricht, ereignet und so zur Konkordanz, zum Einschwingen in den englischen Gesang führt. Zugleich setzt das Singen vor Gott eine Bewegung auf ihn hin in Gang und ist somit Teil jeder zielorientierten Katechese. „Wir singen“, so der Papst vor den Vertretern der Kirchenmusik in Regensburg, „ihn vor Augen und um zu ihm vorzudringen, wir singen für Gott – für den Gott, der kein Unbekannter ist, sondern ein Gesicht hat, das Gesicht Jesu Christi. Für den Gott, der ,Logos‘, Wort, Vernunft und Liebe ist.“

Für ein solches Singen gibt es dann durchaus Formalkriterien, die bestimmen, was wahre Kirchenmusik ist. Denn „zu solcher Begegnung muss … gehören: Einerseits, dass es sich um Musik handelt, die sich dem Wort verpflichtet weiß, die von der Vernunft erleuchtet ist; andererseits dass es Musik ist, die aus dem Herzen kommt, die von der Liebe inspiriert wird“. Diese wahre Kirchenmusik, die der Papst so sehr liebte und von der wir glauben, dass er ihre vollkommene Schönheit nun im Einklang mit den Chören der Engel erleben darf, muss, wie Benedikt XVI. in seinem Begleitschreiben zu „Summum pontificum“ von 2007 betonte, „,Katholisch‘, das heißt kommunikabel für alle Glaubenden ohne Unterschied des Ortes, der Herkunft, der Bildung sein. Sie muss daher ,einfach‘ sein. Aber das Einfache ist nicht das Billige. Es gibt die Einfachheit des Banalen und es gibt die Einfachheit, die Ausdruck der Reife ist. In der Kirche geht es um die zweite, die wahre Einfachheit. Die höchste Anstrengung des Geistes, die höchste Reinigung, die höchste Reife bringt die wahre Einfachheit hervor. Die Forderung nach dem Einfachen ist, recht gesehen, mit der Forderung nach dem Reinen und dem Reifen identisch, das es gewiss auf vielen Stufen, aber nie auf dem Weg der seelischen Anspruchslosigkeit geben kann“. Dieser Anspruch des verstorbenen Papstes ist ebenso wie seine Liebe zum gesungenen Gotteslob ein Teil seines reichen Vermächtnisses an uns.

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