Manchmal wird gefragt, welche intellektuellen und geistlichen Hilfen katholische Priester in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts von Bischöfen oder Theologieprofessoren zur Unterscheidung der Geister erhielten und ob es solche Hilfen überhaupt gab. Bis zu einem gewissen Grade ist diese Fragestellung zu modern gedacht und entspricht nicht den zeitgenössischen Umständen. Es gab in den Bistümern noch keine „Sekten- und Weltanschauungsbeauftragten“, wie es auch noch keine „Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen“ gab.
Es gab vor 1933 keine systematische Beobachtung der Ideologie des Nationalsozialismus, mit Expertisen und Gutachten oder mit gedruckten „Handreichungen“. Die Bischöfe und der Klerus hatten dieselbe Generationenerfahrung wie die führenden Nationalsozialisten und ihre millionenfache Anhängerschaft – die Fronterfahrung des Weltkriegs, die Erfahrung der Niederlage und des Untergangs der gewohnten Ordnung des Kaiserreichs, die Erfahrung der als Diskriminierung Deutschlands empfundenen alleinige Zuweisung der Kriegsschuld am Weltkrieg an das Deutsche Reich und seine Verbündeten in Artikel 231 des Versailler Vertrags von 1919, die Erfahrung der sogenannten Volkstumskämpfe in den Abstimmungsgebieten vor allem in Oberschlesien, die Erfahrung der Inflation von 1923, der Ruhrbesetzung durch französische und belgische Truppen, der Weltwirtschaftskrise von 1929 und der von der Oktoberrevolution in Russland 1917 und von der KPD in Deutschland tatsächlich oder scheinbar ausgehenden bolschewistischen Gefahr. Die katholische Jugendbewegung und ihre Sprache wiesen Berührungspunkte mit der Diktion völkisch-nationaler Kreise auf. Vom „Reich“ redeten alle, auch wenn die einen an das „Reich Gottes“ dachten und die anderen an das „Dritte Reich“.
Das Ende – das, wohin das alles führen würde – war den allerwenigsten und konnte den allerwenigsten im Februar 1933 deutlich sein, zumal der Führer der NSDAP und neue Reichskanzler, Adolf Hitler, der einer Koalitionsregierung mit Mehrheit im Reichstag vorstand und nicht durch Putsch – das Gerede von der „Nationalen Revolution“ war nationalsozialistischer Propaganda – an die Macht gekommen war, sondern auf verfassungsgemäß-parlamentarischem Weg, mit dem Reichskonkordat vom 20. Juli 1933 alles tat, um den katholischen Bevölkerungsteil in Sicherheit zu wiegen. Dennoch gab es solche Hilfen, wie es in Köln seit dem 16. März 1934 auch die „Abwehrstelle gegen antichristliche Propaganda“ gab, eine Einrichtung des Erzbistums Köln, die unter der Leitung des Domvikars Joseph Teusch – des späteren Kölner Generalvikars – stand.
Eine der wichtigsten Figuren des Nationalsozialismus war der 1892 im damals zu Russland gehörenden Reval geborene Deutschbalte Alfred Rosenberg. Er wurde lange als eher drittrangige Gestalt und auch für die Verbreitung der nationalsozialistischen Ideologie weniger wichtig als Joseph Goebbels betrachtet, bis Ernst Piper den 1934 von Hitler zum „Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“ ernannten Fanatiker in seiner 2005 publizierten Habilitationsschrift als „Hitlers Chefideologen“ herausstellte. Dabei war Rosenberg auch in seiner Zeit schon kein wissenschaftlich ernst zu nehmender Intellektueller, sondern ein dilettierender Wirrkopf.
Nach einem in Riga begonnenen und im Moskau der Revolutionszeit und des beginnenden Bürgerkriegs beendeten Architekturstudium und ausgedehnter Lektüre – auch Bücher des christentumsfeindlichen Philosophen Friedrich Nietzsche, des das Germanentum verherrlichenden Schriftstellers Houston Stewart Chamberlain und des germanophilen und nationalistischen Ur- und Frühhistorikers Gustav Kossinna – kam er Ende 1918 nach Deutschland. Er verfasste antisemitische Schriften, darunter 1919 „Die Spur des Juden im Wandel der Zeiten“, vernebelte das Denken zahlloser Menschen in Deutschland mit Ängsten vor einer „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“ und wurde 1923 Chefredakteur und 1937 Herausgeber des NS-Parteiorgans „Völkischer Beobachter“. Rosenberg gehörte zu den ersten NSDAP-Mitgliedern, nahm 1923 in München an dem Putschversuch, dem „Marsch auf die Feldherrnhalle“, teil und übernahm während Hitlers Haft in Landsberg die Führung der NSDAP. Seit 1930 Reichstagsabgeordneter der NSDAP, ernannte ihn Hitler 1933 zum Leiter des Außenpolitischen Amtes der NSDAP und 1941, nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in der Sowjetunion, zum Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, die baltischen Länder, Weißrussland und die Ukraine. Als „Ostminister“ trug er in erheblichem Maße zu dem millionenfachen Mord von Juden bei. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1946 zum Tode verurteilt, wurde er hingerichtet.
1930 veröffentlichte Rosenberg sein Buch „Der Mythus des XX. Jahrhunderts“, ein ebenso antisemitisches wie antichristliches, antikirchliches und vor allem antikatholisches Machwerk, das von ihm als Fortsetzung von Houston Stewart Chamberlains „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ von 1899 gedacht war. Rosenberg wollte den – in seinen Augen von „jüdischen Einflüssen“ verunstalteten – christlichen Glauben durch eine „artgerechte“ und der „arischen Rasse“ angemessene Religion ersetzen. Er verwarf – wie Marcion im zweiten Jahrhundert – das Alte Testament, dessen Anerkennung er als „größte Sünde des Protestantismus“ bezeichnete, obwohl Martin Luther bei ihm noch am besten wegkam. Er sei „der größte Retter des Abendlandes“. Jesus war für Rosenberg kein Jude, sondern „Verkörperung der nordischen Rassenseele“. Grundlage seines Denkens war das Wahnbild von der Überlegenheit der „germanischen Rasse“.
Rosenberg sprach von der „Verbastardisierung, Verorientalisierung und Verjudung des Christentums“ und nannte das Christentum „eine mit Knechtschaft durchzogene Religion“, die aus dem rassischen „Völkermorast des Mittelmeeres“ hervorgegangen sei. Das Alte Testament war für ihn nur eine Ansammlung von „Zuhälter- und Viehhändlergeschichten“ und der Gott des Alten Testaments „der zu Gott erhobene Dämon“. Das „zaubergewaltige Priestertum Roms“ sah er „als Fortsetzung der Priestergesellschaften Vorder- und Mittelasiens“ und führte das katholische Priestertum auf das „orgiastische“ etruskische Priestertum zurück. Im Papst sah er eine Neuauflage des etruskischen Haruspex.
Überhaupt waren für ihn die Etrusker – ein Volk, das zwischen etwa 800 und um 1000 v. Chr. in Mittelitalien lebte – die Wurzel allen Übels. Die verdorbene Kultur der Etrusker und das Judentum hätten die „Mitleidsreligion“ des Christentums hervorgebracht. Rosenberg stieß sich am christlichen Liebesgebot. Heute sei „jedem aufrichtigen Deutschen klar, dass mit dieser alle Geschöpfe der Welt gleichmäßig umfassenden Liebeslehre ein empfindlicher Schlag gegen die Seele des nordischen Europas geführt worden ist“. Den Papst schilderte er als dämonischen Medizinmann: „Der Medizinmann als dämonische Figur kann selbstständiges Denken seiner Anhänger ebensowenig brauchen wie ehrbewusstes Handeln. Er muss folgerichtig, um seine Stellung zu sichern, das eine wie das andere mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln auszuschalten bemüht sein. Er muss alle allzu menschlichen Ängste und hysterischen Anlagen großzüchten; er muss Hexenwahn und Dämonenzauber predigen.“
Vorgetäuschtes Bekenntnis der Nationalsozialisten
Rosenberg überzeichnete die sittlichen Verhältnisse im Rom des späteren 15. Jahrhunderts und des – von keinem Katholiken verteidigten – Renaissancepapsttums: „Bemerkt sei nur noch, dass die Päpste sich von den Hurenhäusern bestimmte Prozente zahlen ließen, was Paul II. zu einer ständigen Einnahmequelle ausgestaltete. Sixtus IV. bezog 20 000 Golddukaten aus den Freudenhäusern. Die Pfarrer mussten für ihre Konkubinen bestimmte Taxen zahlen, während der Vatikan seine Beamten mit Schecks auf die Bordelle entlohnte. Sixtus IV. erlaubte für eine bestimmte Zahlung auch die Knabenliebe.“
Auch die evangelische Theologie und Kirche konnte Rosenbergs rassistischen Angriff auf Kirche und Christentum nicht unbeantwortet lassen, obwohl ein Teil der evangelischen Theologen, Pfarrer und Kirchenführer auf der Seite der Deutschen Christen standen und einer „Germanisierung“ des Christentums das Wort redete. Der in der Bekennenden Kirche engagierte evangelische Theologe und Berliner Privatdozent Walter Künneth – 1953 erhielt er einen Lehrstuhl in Erlangen – verfasste als Leiter der „Apologetischen Centrale“ im Evangelischen Johannesstift Berlin-Spandau mit seinem Werk „Antwort auf den Mythus. Die Entscheidung zwischen dem nordischen Mythus und dem biblischen Christus“ eine Widerlegung Rosenbergs. Auf katholischer Seite waren es mehrere Gelehrte, die eine Gegenschrift erarbeiteten, die 1934 vorlag. Man fürchtete die Beschlagnahmung durch die Gestapo und wollte die „Studien zum Mythus des 20. Jahrhunderts“ unter dem Schutz der Kirche veröffentlichen. Gedacht war an eine Publikation als amtliche Beilage zum Kirchlichen Amtsblatt der Erzdiözese Köln. Der Kölner Erzbischof Karl Joseph Kardinal Schulte zog seine Zustimmung aber kurzfristig zurück.
Der spätere Kardinal Clemens August Graf von Galen, seit September 1933 Bischof von Münster, der sich Ende März 1934 in einem Hirtenbrief kritisch mit dem vorgetäuschten Bekenntnis der NSDAP zum „positiven Christentum“ auseinandergesetzt hatte, nahm sich der Sache an. So konnten die „Studien zum Mythus des 20. Jahrhunderts“ ab Oktober 1934 in mehreren Folgen als Beilage zum Amtsblatt des Bistums Münster erscheinen. Eine Neuauflage als Buch im Umfang von 148 Seiten kam 1935 – mit Erscheinungsangabe 1934 – als „Amtliche Beilage“ zum „Kirchlichen Anzeiger für die Erzdiözese Köln“ heraus. Ein dritter Neudruck, erschienen 1935, war um den Nachtrag „Paulus und das Urchristentum“ erweitert und umfasste 175 Seiten. Die – dem Bischof von Galen richtigerweise zugeschriebene, in dem Kölner Druck aber nicht namentlich gezeichnete – Vorrede lautet: „Deutsche Fachgelehrte geben in dieser Schrift über den Inhalt und die Quellen des „Mythus des XX. Jahrhunderts“ Aufklärung. Diese Schrift ist geschrieben in Liebe zum deutschen Vaterlande, zur Heiligen Kirche und zur Wahrheit. Möge sie in diesem Sinne wirken!“.
Wer waren die „deutschen Fachgelehrten“? Die „Studien zum Mythus des 20. Jahrhunderts“ weisen keine Verfasserangabe auf. Der Initiator war Joseph Teusch mit seiner „Abwehrstelle“ in Köln. Als Autoren sind unter anderen der Bonner Kirchenhistoriker und Kölner Diözesanpriester Wilhelm Neuß, der katholische Philosoph Alois Dempf, seit 1926 Privatdozent in Bonn, und der Philosoph Bernhard Lakebrink identifizierbar, der, 1930 in Bonn promoviert, als Gymnasiallehrer tätig war und sich erst 1954 in Köln habilitierte. Es ist möglich, dass auch der evangelische Theologe Karl Barth, Professor in Bonn von 1930 bis zu seinem Weggang nach Basel 1935 und Verfasser der Barmer theologischen Erklärung vom 31. Mai 1934, und Erik Peterson, der 1930 zum katholischen Glauben übergetretene Professor der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Bonn, der seit 1933 in Rom lebte, im Hintergrund standen, ohne als Autoren beteiligt zu sein. Mit beiden war Alois Dempf verbunden. Die „Studien“ sind keine Kampfschrift, sondern eine wissenschaftlich argumentierende Auseinandersetzung mit Rosenberg, die durch nüchterne Sprache und Sachlichkeit hervorsticht. Die aktuelle wissenschaftliche Literatur wird zitiert, darunter herausragende evangelische Theologen wie der Kirchenhistoriker Albert Hauck oder der Alttestamentler Ernst Sellin.
Rosenberg schöpfte nicht aus authentischen Quellen
Die „Studien“ sind in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil geht es um die Geschichte der Kirche in Altertum, Mittelalter und Neuzeit. Hier ist Wilhelm Neuß der Verfasser, der die Aussagen Rosenbergs zur Kirche in ihrer Geschichte einer kritischen Prüfung unterzieht. Darauf folgt der zweite Teil mit der Kritik an den Äußerungen Rosenbergs zur Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments. Der dritte Teil gilt dem „Eckehart-Problem“. Rosenberg hatte den Mystiker Meister Eckhart aus dem 13./14. Jahrhundert als Protagonisten einer „Deutschen Volkskirche“ hingestellt und seinen Tod durch Vergiftung suggeriert. Hier dürfen wir Dempf als Verfasser betrachten, der ein hervorragender Kenner des Dominikaners war und 1934 ein Buch über Meister Eckhart veröffentlichte.
Die Autoren kamen zu einem vernichtenden Urteil. Sie konnten nachweisen, dass Rosenberg keine authentischen Quellen benutzt und nur krude Literatur herangezogen hatte – vor allem den „Pfaffenspiegel“ des Freidenkers Otto von Corvin-Wiersbitzky von 1845, das fragwürdige Buch „Die Entwicklung des Priestertums und der Priesterreiche oder Schamanen, Wundertäter und Gottmenschen als Beherrscher der Welt“ von Randolph Charles Darwin von 1929 und das wissenschaftlich wertlose Buch „Tusca“ von Albert Grünwedel über die etruskische Kultur von 1922. Das Schlusswort zum kirchengeschichtlichen Teil der „Studien“ lautet: Rosenbergs Buch kann „nicht bestehen. Auf Irrtümer ist es aufgebaut, leider ganz aufgebaut, da das Bild der Kirche, der sein Kampf gilt, in allen Teilen falsch ist.“ Ähnlich das Urteil zu seinem Kampf gegen den Gott des Alten Testaments: „Rosenbergs Zeichnung des alttestamentlichen Gottesbegriffs ist total verzerrt und hat mit quellenmäßiger Darstellung sehr wenig zu tun.“
Rosenberg antwortete seinen katholischen Kritikern mit der Schrift „An die Dunkelmänner unserer Zeit“ von 1935, deren Titel an die „Dunkelmännerbriefe“ von 1515/17 erinnern sollte. Seinen evangelischen Kritikern galt seine Schrift „Protestantische Rompilger. Der Verrat an Luther und der ,Mythus des 20. Jahrhunderts‘“ von 1937. Es erübrigt sich darauf einzugehen. Wichtiger ist ein Satz aus den „Studien“: „Man ist nicht wenig über die Sicherheit erstaunt, mit der Rosenberg hier Behauptungen aufstellt, wie man sie früher nur aus dem Munde freidenkerischer Monisten zu hören gewohnt war.“ Tatsächlich war vieles von den antikirchlichen und antichristlichen Ideenfetzen, die Rosenberg aneinanderreihte, schon im Freidenkertum des 19. Jahrhundert – und teilweise in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts – verbreitet. Aber auch in der Kirchen- und Christentumskritik unserer Zeit findet sich – natürlich ohne die rassistische Grundlage von Rosenbergs Denken und ohne seinen Etrusker-Unsinn – manches von dem wieder, was Rosenberg in seinem Mythus des 20. Jahrhunderts“ propagierte.