Der diesjährige Joseph-Ratzinger-Preis geht an einen Philosophen? Ja doch: Der Preis steht zwar für theologisches Denken, aber erwünscht ist ein Ausgreifen der Theologie auf zeitgenössische Fragen. Und nicht minder umgekehrt: Heutige brennende Fragen sollen auf die Theologie befruchtend zurückwirken. Eben das ist der Fall: Der Preisträger Jean-Luc Marion hat sein Lebenswerk der Religionsphilosophie gewidmet und dabei tragfähige, ja lockende Brücken zur Theologie geschlagen.
Phänomenologe
Marion, 1946 in Meudon/Frankreich geboren und an der Pariser Sorbonne und in Chicago lehrend, ist Mitglied des vatikanischen Kulturrates und wurde 2008 als Mitglied in die Académie française gewählt. Im selben Jahr wurde er auch mit dem Karl-Jaspers-Preis ausgezeichnet. In Deutschland trug er u.a. vor wenigen Jahren bei einer Sommerschule der Katholischen Universität Eichstätt und an der Katholischen Akademie München vor.
Als Schüler und Kritiker des vielbesprochenen Philosophen Jacques Derrida gehört Marion zur bedeutenden Phänomenologenschule Frankreichs und ist von daher den deutschen Vordenkern der Phänomenologie, Edmund Husserl und Martin Heidegger, verpflichtet. Aber auch: Der kaum 30jährige Marion hatte in Paris bei dem damaligen Studentenpfarrer Jean-Marie Lustiger tiefe Anstöße erhalten. Einfluss auf sein Denken hat ebenso Emmanuel Levinas, der seinerseits die Phänomenologie durch eine neue „Ethik des Anderen“ zu revolutionieren suchte. In den letzten Jahrzehnten wird Jean-Luc Marion auch im deutschsprachigen Raum breit rezipiert; die Liste seiner Bücher ist lang. Genannt seien einige Titel, die den Ansatz schon erkennen lassen: Gott ohne Sein, 1982; Das Erotische. Ein Phänomen, 2011; Das Erscheinen des Unsichtbaren. Fragen zur Phänomenalität der Offenbarung, 2018; und als Einführung ein Sammelband, herausgegeben von der Autorin: Jean-Luc Marion. Studien zum Werk, Verlag Text & Dialog, Dresden 2013.
Gott denken
Was wird in diesen großen Bögen durchdacht? Herausgegriffen sei eine der leitenden Fragen: Wie lässt sich Gott denken? Noch genauer: Was geschieht, wenn das Denken wirklich Gott denkt? Es geht um einen Neuansatz gegenüber Kant, Husserl und Heidegger, um Grenzen der Phänomenologie aufzubrechen und zu „überwinden“. Um welche Grenzen handelt es sich? Schon Heidegger leistete eine Kritik der Ontotheologie, einer auf die Seinslehre aufgebauten Theologie, weil „Sein“ ein zu abstrakter Begriff für Gott sei: „Zu diesem Gott kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm opfern. Vor der Causa sui (=Ursache seiner selbst) kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen.“
Ähnlich sucht Marion ein „Jenseits des Seins“ als den möglichen Grund für ein Denken Gottes herauszuarbeiten: Gott soll freigehalten werden von seinshaften, „verdinglichten“ Bestimmungen. Stattdessen wird er als ein anderer Grund der Wirklichkeit gedacht, als ein „Sich-Ereignen“: Gott ereignet sich. Und er lässt auch anderes sich ereignen. Das Ereignis geschieht immer neu; und dieses Neue erscheint unverhofft, grundlos. Aber wie erscheint es und wie wird es aufgenommen?
Gesättigtes Phänomen
Auf ein solches Ereignis setzt Marion den Ausdruck „gesättigtes Phänomen“. „Gesättigt“ meint eine Überfülle, die die Grenzen des Sehens öffnet, ja, sie zerbricht, bis zu einer sogar ekstatischen oder in Ohnmacht setzenden Wahrnehmung. Das kann auch ein überwältigender Sinneseindruck sein, es kann die Liebe sein, die Schönheit… Marion fragt damit zwei Dinge an: das „unbeteiligt-sachliche“ Erkennen bisheriger Erkenntnistheorie und ferner die Behauptung, daß alles Erkennen nur im Raum des eigenen Bewusstseins, subjektiv, stattfinden könne. Vielmehr ist durch das objektive Ereignis das Erkennen tiefer herausgefordert: als ein Sich-Geschehen-Lassen oder sogar ein Erleiden anstelle des eigenen Zugreifens im Begriff. Das Bewusstsein wird vom Einbrechenden angegriffen, vielleicht zerstört. Bisheriges „neutrales“ Erkennen wird außer Kraft gesetzt. Der Aufprall im Denken verrät ein unbekanntes Gegenüber.
Unerwartetes
Für Marion zeigt sich der biblische Gott in einem verstörenden Erscheinen. Zu erinnern ist: Der kaum 30jährige Marion hatte in Paris Ende der 60er Jahre bei dem damaligen Studentenpfarrer Jean-Marie Lustiger tiefe biblische Anstöße erhalten. Dazu gehört: Auch das Göttliche wird zum Idol, wenn es nur im templum, wörtlich: dem „Abgemessenen“ schlechthin, verortet wird, und auch das lateinische Wort sanctum (sancire = einzäunen) führt nicht aus dem Abgezirkelten heraus. Mit dem von Menschen zugewiesenen Radius wird Gott zum selbsterstellten Götzen, während sein wirkliches Bild vom Unsichtbaren lebt, vom Geschehenlassen eines Unfaßbaren. Marion versucht Gott aus dem immer schon Gewussten zu lösen: Er ist ein „anderswo“.
Wie gut, heute auf solche Fragen gestoßen zu werden, wo wir erneut und heftig auf Unerwartetes aufprallen.
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