Berlin

„Es gibt nichts Wesentlicheres als Vergebung“

Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff erwartet angesichts der Ungerechtigkeit in der Welt Gericht und Strafe. Ein Gespräch über das Grauen des Krieges, die Kunst des Verzeihens und ihre Wertschätzung des katholischen Glaubens.
Die Autorin Sibylle Lewitscharoff
Foto: Berliner Akademie der Künste via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Die Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff ist zwar evangelisch, fühlt sich aber zur katholischen Kirche und ihren Ritualen hingezogen.

Frau Lewitscharoff, selbst religiös unmusikalische Zeitgenossen wünschen derzeit Putin Gericht und ewige Strafe. Kennen Sie aus eigener Erfahrung Momente, in denen keine irdische Maßnahme angesichts des Übels als ausreichend erscheint?

Ja, den Eindruck habe ich öfter, weil viele Gewaltherrscher ungeschoren davonkommen. Stalin ist für Millionen Tote verantwortlich und durfte in seinem Bett sterben. Dann schreit die Ungerechtigkeit zum Himmel. Wie Gott straft oder nicht straft, ist eine Frage, bei der einem Zweifel kommen.

Gesetzt den Fall, die weltliche Justiz greift: Hat Strafen auch dann ein überzeitliches Moment?

"Nichts ist schlimmer als in einer Gesellschaft
zu leben, in der schlimme Menschen das
Schlimmste anstellen können und unbestraft bleiben"

Ja, ich halte Strafe in solchen Fällen für eminent wichtig, damit der gesellschaftliche Gerechtigkeitszusammenhang wiederhergestellt wird. Es geht nicht nur um die Bestrafung des Übeltäters.
Das Gefüge soll nicht auseinanderfallen. Nichts ist schlimmer als in einer Gesellschaft zu leben, in der schlimme Menschen das Schlimmste anstellen können und unbestraft bleiben. Auch wenn Gerechtigkeit im menschlichen Dasein immer nur partiell erreicht werden kann – der Versuch, der Übeltäter habhaft zu werden, muss da sein.

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Könnte ein Tyrannenmord den Seelenfrieden des Einzelnen stärken?

Absolut: Ich würde ihn sofort begehen, wenn es mir leichtfiele und ich davonkäme. Wenn jemand so viel Schuld auf sich geladen hat, kann man nicht nur auf jenseitige Gerechtigkeit hoffen.

"Man hätte sich gewünscht, Hitler hätte den
Tyrannenmord erlitten. Schrecklich, dass es nicht
geschah. Was wäre uns erspart geblieben!"

Warum wäre damit etwas für den Frieden gewonnen? Besteht nicht die Gefahr, dass aus der Hydra sieben neue hervorgehen?

Doch, damit wäre für den Frieden etwas gewonnen, denn es gibt Tyrannei, auf die es keine andere Antwort gibt als den Tyrannenmord. So schnell ist kein anderer da, der die Lücke auf noch schrecklichere Weise füllen würde. Man hätte sich gewünscht, Hitler hätte den Tyrannenmord erlitten. Schrecklich, dass es nicht geschah. Was wäre uns erspart geblieben!

Haben Sie einen Angriffskrieg unter Christen im 21. Jahrhundert für vorstellbar gehalten?

Nein. Ich bin von davon völlig überrascht worden. Ich dachte, ich sei alt und käme in den letzten Jahren kriegslos durch die Welt. Ich bin sprachlos, mit welcher Brutalität das sofort losging. Ich muss gestehen: Ich habe es Putin nicht zugetraut, dass er so extrem reagiert.

Wie bewerten Sie mit Blick auf den Krieg in der Ukraine die Rolle der Kirchen?

Ich halte die Orthodoxie für eine verkommene Religion. Das sind weder die Katholiken noch die Protestanten in der Form. Mein Vater war Bulgare. Ich habe Bulgarien oft bereist und bin auch mit den Kirchen in Verbindung gekommen.
Die Orthodoxen haben schöne Aspekte, zum Beispiel die Liturgie. Dafür bin ich sofort zu haben. Aber nicht für die Art, wie sie ihr Geld verdienen. Das ist ein Trauerspiel.

"Der Widerstreit katholisch versus evangelisch
ist längst nicht mehr so groß,
wie er noch in unseren Jugendjahren war"

Immerhin scheinen Katholiken und Protestanten Seite an Seite zu stehen...

Dass Katholiken und Protestanten in solchen Zeiten zusammenrücken, wundert mich nicht. Der Widerstreit katholisch versus evangelisch ist längst nicht mehr so groß, wie er noch in unseren Jugendjahren war. Das hat sich doch weitgehend entspannt. Nicht unbedingt nur zum Guten, denn es sind auch extreme Verwässerungen im Spiel. Schade ist, dass man eine Liberalität nicht leben kann ohne die Unterschiede gleichzeitig zu betonen.

Inwiefern sollten die Unterschiede klarer akzentuiert werden?

Beide Konfessionen feiern gerne einen Einheitszauber mit Großveranstaltungen. Das mag mal ganz nett sein, aber die Lehren unterscheiden sich ja. Es lebe doch bitte der Widerspruch. Ich bin von meiner Haltung eher katholisch gesonnen, obwohl ich protestantisch erzogen bin. Ich habe auch mit Katholiken mehr zu tun. Katholiken laden mich viel häufiger ein als Vertreter meiner Kirche. Sie interessieren sich viel stärker für Literatur. Sie sind in den Künsten und in der Literatur viel mehr zu Hause als die Protestanten, obwohl die Protestanten buchaffin sind.

Was zieht Sie am Katholizismus an?

Mich zieht bei den Katholiken die gehaltenere rituelle Verpflichtung an. In schwachen Religionszeiten, in denen niemand mehr so richtig glaubt oder nur halbwegs, ist die Rituallastigkeit von großer Bedeutung. Die Rituale nehmen in der katholischen Kirche mehr Raum ein als in der evangelischen.
Dort haben die Gläubigen ein Problem, wenn die Predigt nicht gut ist. Die Katholiken predigen ja auch nicht besser, aber sie predigen viel kürzer. Das ist von Vorteil. Die Protestanten leben von der Predigt.

Das protestantische Pfarrhaus galt einst als Hort der Kultur. Wie bewerten Sie die These des reformierten Pfarrersohns Jakob Burckhardt (1818-97), derzufolge gilt, dass „zu langer Friede nicht nur zur Schlaffheit führt, vielmehr entsteht eine Menge jämmerlicher Notexistenzen“ („Weltgeschichtlichen Betrachtungen“)?

Ich kann Burckhardts Auffassung nicht teilen. Die Geschichte nach Jakob Burckhardt hat noch viel Schrecklicheres gelehrt. Es gab zu seiner Zeit zwar schon Kriege, aber die ganz großen Massenschlächtereien hat er nicht erlebt.

"Wer in dieser Gnade steht und loslassen
und verzeihen kann, hat es eindeutig besser,
weil er Herz und Kopf befreien kann"

Kriege sind aber mit dem Ende der Kriegsgeneration nicht abgeschlossen. Manche Psychologen meinen, eine Familie brauche nach einem Krieg wenigstens zwei Generationen, um das Geschehen zu verarbeiten und wieder zur Ruhe zu kommen. Welche Rolle spielen hier Natur und Gnade?

Wer in dieser Gnade steht und loslassen und verzeihen kann, hat es eindeutig besser, weil er Herz und Kopf befreien kann. Wenn einem etwas angetan wurde, gibt es nichts Wesentlicheres als Vergebung, weil es das Schreckliche selbst mindert. Das hat natürlich Grenzen.
Ich habe die Kriegsgeneration erlebt. Ich hatte immer den Eindruck, dass diejenigen besser weggekommen sind, die ein verzeihenderes Verhältnis zu sich selbst und zu anderen entwickelt haben. Das heißt nicht, dass man verlogen ist und das Vorgefallene negiert.
Ich möchte mich selbst auch nicht seligsprechen: Ich war zwischen zwölf und 17 eine acharnierte Trotzkistin, eine absolute Kampfbürste, und habe vielen Menschen den Tod gewünscht. Ich war sehr scharf verfasst und hätte das Zeug dazu gehabt, mitleidlos zu agieren.

Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit?

Versöhnliche. Zwischen meinem ersten und elften Lebensjahr war es klasse. Ich hatte viele Anregungen als Kind. Bei uns lebte die liebenswürdige, sehr fromme schwäbische Großmutter. Ich bin wahnsinnig gern mit meiner Großmutter in die Kirche gegangen. Sie konnte gut singen und hat schön aus der Bibel erzählt. Ich war ein sehr frommes Kind.
Das hatte zur Folge, dass ich dem Dackel die Pfoten gefaltet und mit ihm gebetet habe. Dann gab es aber eine schwere Katastrophe, als mein Vater sich umbrachte und meine Großmutter starb. Ich war das Vaterkind. Er hat mich sehr gefördert. Und meine Mutter war sehr emanzipiert und schroff.  Ich hätte lieber ein Kuchen backendes Hausmütterchen als Mutter gehabt. Den Hang zur Literatur habe ich aber von meiner Mutter geerbt. Man möchte das, was man nicht hat.

Kann man lernen, anderen zu verzeihen? Wovon hängt es ab, ob jemand den Absprung aus dem Teufelskreis des Hasses schafft?

Es hängt von der Erziehung ab und davon, ob man als Kind Verzeihung erfahren hat. Ob Fehler glimpflicher behandelt worden sind und jemand aus der Schleife des kleinen Verbrechers rauskam. Wenn jemand verständige Eltern gehabt und erlebt hat, die Fehler nicht immer wieder aufs Tapet kamen, dann ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass man anderen verzeihen kann.

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