Wer das Alte Testament nur in Auszügen oder ausschließlich aus der liturgischen Leseordnung kennt, weiß nicht so recht, wie es um den Frieden und die Friedfertigkeit dieses ersten und grundlegenden Teils der christlichen Bibel bestellt sein mag. Neben beeindruckenden und bekannten Bildern zu Frieden und Versöhnung finden sich eine Reihe verstörender Texte zu Krieg und Gewalt. Im Neuen Testament, so eine verbreitete Sicht, scheint das alles ganz anders zu sein. Jesu Botschaft, sein Leben und Sterben, waren von Anfang bis Ende gewaltlos, so dass der Epheserbrief in aller Einfachheit und Klarheit von Christus bekennen kann: „Er ist unser Friede“ (Epheser 2, 14). Vom Lobgesang des Zacharias (Lukas 1, 79) über das Gloria des himmlischen Heeres bei der Geburt Jesu (2, 14) bis zur Begegnung mit dem Auferstandenen (Johannes 20, 19) ist das Evangelium eine einzige Bewegung des Friedens.
Von Gott inspiriert
Doch diese Geschichte, so soll hier gezeigt werden, ist eine Fortsetzungsgeschichte. In ihr wird zu Ende erzählt, was einen Anfang hat. Sie bliebe unvollständig und unverständlich, wenn der erste Teil der Geschichte unbekannt bliebe oder verworfen würde. Deshalb hat die Kirche immer daran festgehalten, dass die Bibel, bestehend aus Altem und Neuem Testament, in allen ihren Teilen von Gott inspiriert ist.
Auch das Alte Testament ruft dazu auf, den Frieden zu suchen, ja ihm nachzujagen (Psalm 34, 15). Gott verheißt seinem Volk den Frieden (Psalm 85, 9). Und wenn der Messias kommt, „dann tragen die Berge Frieden für das Volk und die Hügel Gerechtigkeit“ (Psalm 72, 3). Nicht auf einem Pferd, mit dem die Könige dieser Welt in den Krieg ziehen (vgl. Exodus 15, 4), sondern auf einem Esel wird der Friedenskönig in Jerusalem einziehen und nicht nur seinem Volk, sondern allen Nationen der Erde den Frieden verkünden (Sacharia 9, 9f).
Kernstörung zwischen Gott und Mensch
Doch diese Botschaft hängt nicht in der Luft. Sie ergeht in eine Welt, in der die Gewalt herrscht. Sie bricht bereits in der zweiten Generation in der Geschichte der Menschheit aus: Kain erschlägt seinen Bruder Abel (Genesis 4). Der Brudermord ist das Urbild der Gewalt in der Welt. Sie hat eine Ursache. Kain ist nicht nur Täter, sondern auch Opfer. In einer psychologisch und theologisch feinsinnigen Analyse deckt die Erzählung diesen Zusammenhang auf: Kain wird von der Sünde belagert. Sie lauert an seiner Tür, heißt es in Genesis 4, 7. Gott macht ihn auf die Gefahr aufmerksam und fordert ihn auf, über die Sünde zu herrschen. Doch Kain hat bereits seine aufrechte Haltung verloren, die Sünde hat die Herrschaft über ihn gewonnen, er schreitet zur Tat und tötet seinen Bruder.
Doch woher kommt die Sünde, die an der Tür lauert, die ihre Opfer sucht, um sie zu Tätern zu machen? Sie hat eine Vorgeschichte. Von ihr erzählt das dritte Kapitel der Genesis. Das erste Menschenpaar hat ein Gebot Gottes übertreten (Genesis 2, 16). Es hat nicht auf die Stimme Gottes gehört, sondern auf die Stimme eines Geschöpfes, der Schlange, die das Gebot Gottes verfälscht und Misstrauen zwischen Gott und dem Menschen gesät hat. Die Erzählung will uns sagen: Es gibt so etwas wie eine Kernstörung zwischen Gott und den Menschen. Wir sprechen von der Ursünde.
Gott muss seinen Schöpfungsauftrag ändern
Sie ist eine Realität in der Schöpfung, die aus sich heraus wirkt und sich immer mehr ausbreitet. Sie stammt nicht von Gott, sondern sie wurde und wird immer wieder durch den Menschen gesetzt. Sie zeigt ihre Fratze vor allem in der Gewalt. Einen ersten Ausbruch dieser Gewalt stellt der Brudermord dar. Danach breitet sich die Gewalt immer weiter aus. „Die Erde aber war vor Gott verdorben, die Erde war voller Gewalttat“, heißt es in Genesis 6, 11. Die Schöpfung droht ins Chaos zurückzufallen. Gewalt, so die Bibel, betrifft nicht nur das menschliche Zusammenleben, sondern die ganze Schöpfung: „Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, mit ihm auch das Vieh, die Kriechtiere und die Vögel des Himmels, denn es reut mich, sie gemacht zu haben“, sagt Gott (Genesis 6, 7). Doch ein Mensch und seine Familie finden Gnade in den Augen Gottes und werden aus der Flut gerettet: Noach, der gerecht war vor Gott (Genesis 7, 1).
Nach der Flut ist die Welt eine andere als vorher. Gott muss seinen Schöpfungsauftrag ändern. Er sieht ein, dass das Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend an (Genesis 8, 21). Gott schließt mit Noach einen Bund und gibt ihm und seinen Nachfolgern ein Instrument an die Hand, die sich ausbreitende Gewalt in Grenzen zu halten. Es handelt sich um die Einführung des Rechts. Das menschliche Leben wird unter den Schutz des Rechts gestellt.
Strenge Regeln der Blutrache
Doch damit das Recht nicht nur leere Anpreisung bleibt, muss es mit Gewalt ausgestattet werden. Diese rechtmäßige Gewalt nimmt in der Urgeschichte noch eine sehr einfache, urtümliche Form an: „Wer Blut eines Menschen vergießt, um dieses Menschen willen wird auch sein Blut vergossen. Denn als Bild Gottes hat er den Menschen gemacht“ (Genesis 9, 6). Die Durchführung der Blutrache ist an strenge Regeln gebunden. Im Kern handelt es sich um eine bedeutende zivilisatorische Errungenschaft: Es geht um die Eingrenzung unrechtmäßiger Gewalt (violentia) durch rechtmäßige Gewalt (potestas).
Das Gebot der Gewalteindämmung durch das Recht gilt universal. Deshalb muss Gott jetzt keine Flut mehr über die ganze Erde bringen: „Nie wieder soll eine Flut kommen und die Erde verderben“ (Genesis 9, 11). Im weiteren Verlauf der Geschichte wird die Institution der Blutrache durch das staatliche Gewaltmonopol ersetzt. Im Richterbuch wird von erschreckenden Gewalttaten wie Mord und Vergewaltigung erzählt, „denn in jenen Tagen gab es noch keinen König in Israel und jeder tat, was in seinen eigenen Augen recht war“ (Richter 21, 25). Die grausamen Geschichten wollen die Gewalt nicht verherrlichen, sondern decken auf, was wir gewöhnlich auch heute erleben, wenn ein Staat zusammenbricht. Besonders in seinem Schlussteil ist das Buch der Richter ein Plädoyer für das Königtum. Der König hat die Aufgabe, für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen und dem Treiben der Gewalttäter Einhalt zu gebieten (Psalm 72, 4).
Heilung durch die Gewaltlosigkeit der Liebe
Doch damit ist das Problem noch nicht gelöst. Das Trachten des menschlichen Herzens bleibt böse von Jugend an. Daran hat sich nach der Flut nichts geändert (Genesis 6, 5; 8, 21). Die Gewalt bleibt eine Realität in der Schöpfung: „Wohin ich blicke, sehe ich Gewalt und Misshandlung, erhebt sich Zwietracht und Streit“, klagt der Prophet Habakuk (1, 3). Die Bosheit des menschlichen Herzens kann nicht mit Gewalt geheilt werden.
Die Eindämmung der Gewalt durch Gewalt muss von der Heilung des menschlichen Herzens durch die Gewaltlosigkeit der Liebe begleitet werden. In den Verheißungen der Propheten wird ein solcher Weg in Aussicht gestellt. Das Herz aus Stein muss durch ein Herz aus Fleisch ersetzt werden: „Ich entferne das Herz von Stein aus ihrem Fleisch und gebe ihnen ein Herz von Fleisch, damit sie meinen Satzungen folgen und meine Rechtsentscheide bewahren und sie erfüllen. Dann werden sie mir Volk sein und ich werde ihnen Gott sein“, heißt es beim Propheten Ezechiel (11, 19f).
Berührt vom Herzen Jesu
Dem vom Fluch der Gottvergessenheit heimgesuchten Volk, das in der Verbannung lebt, gilt die Verheißung: „Der Herr, dein Gott, wird dein Herz und das Herz deiner Nachkommen beschneiden. Dann wirst du den Herrn, deinen Gott, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele lieben können, damit du leben kannst“ (Deuteronomium 30, 6). Der christliche Glaube bekennt, dass es ein solches Herz tatsächlich gegeben hat und dass die Bosheit des menschlichen Herzens geheilt werden kann, wenn es auf das Herz Jesu schaut und sich von ihm berühren und verwandeln lässt.
Nach der Erscheinung vor Maria von Magdala trat Jesus am Abend des ersten Tages der Woche in die Mitte seiner Jünger und sagte zu ihnen: „Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite“ (Johannes 20, 20). Jesus ist nicht nur der Friede, sondern er stiftet auch den Frieden, Frieden den Fernen und Frieden den Nahen (Ephesus 2, 14–17; vgl. Jesaja 57, 19). Damit erfüllt sich eine Verheißung der Schrift: Zukunft hat der Mann des Friedens (Psalm 37, 37).
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