Ein Jahr nach der Veröffentlichung des Motu proprio „Traditionis custodes“ hat sich für die meisten Anhänger der „alten Messe“ in ihren liturgischen Gewohnheiten netto nichts geändert. Die Zelebranten sind nicht aus Furcht vor negativen Konsequenzen abgesprungen, die Messorte sind in der Regel dieselben geblieben. Vor allem sind die gefürchteten Weiheverbote von Kandidaten altritueller Gemeinschaften ausgeblieben. Die Petrusbruderschaft bekam von Papst Franziskus persönlich Entwarnungssignale. Der einzige Paukenschlag, mit dem Rom überraschend Priesterweihen untersagte, betraf nicht die Traditionalisten, sondern die Kandidaten des diözesanen Priesterseminars von Toulon in Südfrankreich.
Andere Entscheidungen
Zugleich hat Papst Franziskus Entscheidungen getroffen, die sein Motu proprio in der Praxis stark relativieren. Eine war die Neubesetzung des Pariser Bischofsstuhls. Die Ernennung des für sein Wohlwollen gegenüber altrituellen Gemeinschaften bekannten Erzbischofs Laurent Ulrich für das wichtigste französische Bistum hat zur Entspannung der Lage beigetragen. Gleichwohl hat das Motu proprio bei vielen Traditionalisten eine Art geistliche Standortbestimmung bewirkt.
Inmitten etlicher noch bestehender Unsicherheiten, die gar nicht schönzureden sind, zeichnet sich Resilienz als neues Leitmotiv ab: Infolge der Kirchenkrise hat die scharfe Abgrenzung von Missbräuchen in der Liturgie – sie war jahrzehntelang das Haupterkennungsmerkmal der Traditionalisten – an Bedeutung verloren. Oft gibt es in den leer gewordenen Pfarreien und Bistümern schlicht niemanden mehr, von dem man sich distanzieren müsste. Selbst die Experimentierer fehlen.
Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Generationenwechsel im Klerus. Vielen jungen Priestern im Diözesanklerus liegt freischaffendes liturgisches Künstlertum genauso fern wie ihren altrituellen Mitbrüdern. Sie sind ernsthafte Seelsorger, die Wert auf würdige liturgische Feiern legen und selbstverständlich Priesterkleidung tragen. Zwischen ihnen und Gläubigen, die die „alte Messe“ besuchen, besteht in zentralen Fragen der Theologie überhaupt kein Dissens.
Neue Bischofsgeneration
Zugleich steht die neue Bischofsgeneration der Tradition emotional distanzierter gegenüber als ihre Vorgänger, die sich durch die alte Messe in ihrer Biografie getroffen sahen und mit persönlichen Empfindlichkeiten darauf reagierten. Mancherorts haben die Verwerfungen im Klerus so dramatisch zugenommen, dass vieles daneben verblasst. Das ironische Diktum des verstorbenen Philosophen Robert Spaemann, Traditionalisten seien in Kirchenkreisen die „Schmuddelkinder, mit denen keiner spielen will“ klingt heute harmlos. In Zeiten, in denen ein deutscher Generalvikar aus der Kirche austritt, mancher Diözesanpriester mit seinem Bischof vorzugsweise über seinen Anwalt kommuniziert und ein nordrhein-westfälischer Bischof kürzlich vor seinem Priesterrat in Tränen ausbrach, nachdem er einen leitenden Priester wegen Vorwürfen übergriffigen Verhaltens vom Dienst freistellen musste, haben Hirten andere Sorgen als die Umerziehung friedlicher Traditionalisten.
„Traditionis custodes“ ist im deutschsprachigen Raum nicht anschlussfähig gewesen, weil der Text die Lage in der Ortskirche missversteht. Sehr oft fehlen die Voraussetzungen in den Pfarreien und Bistümern, um sich eingehend mit dem Dokument zu befassen. In manchen Gemeinden erlebten die Traditionalisten sogar Solidareffekte von Gläubigen, die selbst keinen Fuß in die „alte Messe“ setzen. Jeder Kirchenaustritt gibt ihnen unfreiwillig recht.
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