Kirchenlehrer

„Der Theologe ist kein Archivar“

Der heilige Anselm von Canterbury (1033–1109) wollte die Vernünftigkeit des Glaubens der Kirche erweisen. 
Lebensstationen des heiligen Anselm, dargestellt in der Kathedrale von Canterbury.
Foto: Shaun Higson via www.imago-image (http://www.imago-images.de/) | Lebensstationen des heiligen Anselm, dargestellt in der Kathedrale von Canterbury.

Verehrter Herr Erzbischof, Sie wurden in Italien geboren, haben die längste Zeit Ihres Lebens als theologischer Lehrer und Abt in Frankreich verbracht und sind als Erzbischof von Canterbury gestorben. Wie war das möglich in einem Europa ohne die einende Macht moderner Verkehrs- und Kommunikationsmittel?

Europa war geeint durch die römische Rechtskultur, den christlichen Glauben, besonders auch durch die Benediktinerklöster und die lateinische Sprache. Gemeinsam mit den an den Sitzen vieler Bischöfe entstehenden Kathedralschulen tradierten die Klosterschulen die große Philosophie der Antike und die Theologie der Väter und schufen ein kulturelles Band, das stärker war als alle politisch bedingten Differenzen.

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Der Ruf einer jeden Klosterschule hing ab von der Berühmtheit ihrer Lehrer. Ich wollte den großen Abt und Lehrer Lanfranc kennenlernen, der in der Normandie das Kloster Bec gegründet und rasch Schüler wie den späteren Papst Alexander II. um sich versammelt hatte. Mein Vater, ein langobardischer Adeliger, hatte mir eine politische Rolle zugedacht. Meine Interessen aber waren ganz andere. Ich war glücklich, wenn ich denken und diskutieren und schreiben konnte.

Kaum 20 Jahre alt, entzog ich mich dem Einfluss meines Vaters und floh nach Frankreich. Ich studierte Grammatik, Rhetorik und Dialektik und schließlich auch Theologie, wurde Benediktiner, empfing die Priesterweihe und wurde auf vierfache Weise Lanfrancs Nachfolger: zuerst als Lehrer, dann als Prior (1063) und als Abt (1078) des Klosters Bec; und schließlich als Erzbischof von Canterbury (1093).

"Als ich mich auf die Seite des Papstes stellte,
verwies mich der König des Landes."

Wie Ihr Biograph Eadmer erzählt, haben Sie sich dem Wunsch des englischen Königs heftig widersetzt, Sie zum Erzbischof von Canterbury zu machen.

O ja, ich habe ihm gesagt, dass mir all die Fähigkeiten fehlen, die Lanfranc über seine Gelehrsamkeit hinaus ausgezeichnet haben. Ich habe mich mit einem schwachen Schaf verglichen, das zusammen mit einem ungezähmten Bullen die Geschicke Englands leiten solle. Ich habe die Faust geballt, als der König mir den Hirtenstab in die Hand drücken wollte.

Aber es half nichts. Er ließ mich mit Gewalt in die nahe liegende Kirche schleppen und die Bischofsweihe an mir vollziehen. Ich habe mich 1098 an Papst Urban II. gewandt und ihm berichtet, wie ich auf den Bischofssitz von Canterbury gelangt sei – trotz fortgeschrittenen Alters, trotz meiner Unkenntnis in  allen weltlichen Dingen des Regierens, der Diplomatie und Organisation. Aber diesen Brief hätte ich mir sparen können.

Denn inzwischen tobte der Investiturstreit auch in England. Wilhelm II. wollte sich das Recht zur Ernennung der Bischöfe seines Landes vom Papst nicht nehmen lassen. Und im Unterschied zum deutschen König Heinrich IV. zog er nicht nach Canossa. Als ich mich auf die Seite des Papstes stellte, verwies mich der König des Landes. Von den 16 Jahren, in denen ich Primas von England war, habe ich zweimal je drei Jahre im Exil verbracht. Es ging  um die Freiheit der Kirche. Aber das Exil war auch Geschenk: Ich konnte wieder kontemplativ leben, lesen und schreiben.

Sie waren schon mehr als zehn Jahre in Bec, bevor Sie Ihre ersten Werke der Öffentlichkeit vorstellten: die über Jahrhunderte vergessenen, aber in der Neuzeit wieder entdeckten und diskutierten Bücher „Monologion“ und „Proslogion“.

Ja, es hat lange gedauert, bis ich meine im Gebet gefundenen Gedanken zum Wesen des trinitarischen Schöpfers und zum Erweis seiner Existenz so durchdacht hatte, dass ich sie niederschreiben konnte. Aber auch danach war ich nicht sicher, ob ich sie meinen Schülern präsentieren dürfe. Deshalb habe ich sie zuerst meinem großen Lehrer und Vorbild Lanfranc vorgelegt.

Sie haben das „Monologion“ ursprünglich mit dem Titel „Exemplum meditandi de ratione fidei“ („Eine Anregung, wie man dem vernünftigen Grund des Glaubens nachspüren kann“) und das „Proslogion“ mit dem Titel „Fides quaerens intellectum“ („Glaube, der nach Einsicht sucht“) betitelt. Diese Titel sind auf Anhieb verständlich. Warum die Umbenennung?

Ich wollte meinen Glauben an den trinitarischen Schöpfer mit Gründen erklären, die jeden mit Vernunft begabten Menschen überzeugen können. Ich wollte mich nicht auf Autoritäten (Heilige Schrift und Tradition), sondern nur auf eigene Argumente stützen und so erweisen, dass der Glaube der Kirche in höchstem Maße vernünftig ist. Und weil ich diese Gründe zunächst mit mir selbst (monologisch) besprochen und dann erst auf das Du der Adressaten hin (proslogisch) erklärt habe, kam es zu den neuen Buchtiteln „Monologion“ und „Proslogion“.

Das „Proslogion“ wurde berühmt durch den „ontologischen Gottesbeweis“. Können Sie kurz erklären, worum es dabei geht, und ob Ihre vielen Interpreten Sie richtig verstanden haben?

Wenn wir das denken, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, dann denken wir eine Wirklichkeit, die – weil kein bloßer Gedanke – nicht nichtsein kann. Ich selbst habe aus dieser Tatsache nicht gefolgert, dass es Gott gibt; sondern nur, dass unser Denken so beschaffen ist, dass, wenn wir das denken, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, wir eine Wirklichkeit denken, die nicht nichtsein kann. Bewiesen ist damit eine erstaunliche Ausrichtung  unseres Denkens auf den Glauben an Gott, nicht aber die Existenz Gottes. Leider haben selbst große Denker wie Thomas von Aquin und jüngere Philosophen wie Descartes oder Hegel diesen wichtigen Unterschied übersehen.

Man hat Sie als Rationalist oder – etwas freundlicher – als Vater der Scholastik bezeichnet. Was erwidern Sie darauf?

Ein Rationalist reduziert die Wirklichkeit auf die eigenen Begriffe – nach dem Motto: „Wenn die Wirklichkeit meinen Begriffen nicht entspricht, um so schlimmer für die Wirklichkeit.“ Ich aber habe jede meiner Veröffentlichungen mit einem Gebet und also mit dem Glauben begonnen und erst unter dieser Voraussetzung gefragt, ob ich mit der bloßen Vernunft einsehen – nicht beweisen! – kann, was ich glaube.

"Gott konnte die Würde des Menschen
nur dadurch wahren,
dass er die Folgen seiner Sünde nicht einfach beseitigt hat. "

Keine Ihrer theologischen Schriften hat eine größere Wirkungsgeschichte erzielt als das Opusculum, das Sie als Erzbischof von Canterbury unter dem Titel „Cur Deus homo?“ („Warum ist Gott Mensch geworden?“) Papst Urban II. gewidmet haben. Was wollten Sie mit dieser Schrift erklären?

Ich habe mich gefragt: Wenn Gott allmächtig und barmherzig ist, warum hat er dann unsere Erlösung nicht einfach mit einer Generalabsolution bewirkt? Warum das ganze Drama zwischen Bethlehem und Golgotha? Warum die Menschwerdung und vor allem die Kreuzigung des Unschuldigsten aller Menschen? Meine Antwort war: Gott konnte die Würde des Menschen nur dadurch wahren, dass er die Folgen seiner Sünde nicht einfach beseitigt hat. Er musste ihn befähigen, wieder er selbst (frei) zu werden.

Leider ist auch dieses Buch gründlich missverstanden worden. Weil ich von der Sühne aller Sünden durch das Opfer des Gekreuzigten gesprochen habe, hat man mir unterstellt, ich sei der Erfinder eines Gottes, der lieber einen Unschuldigen sterben lässt als auf die Bezahlung der Schuld der Schuldigen durch eine äquivalente Wiedergutmachung (Satisfaktion) zu verzichten. Aber mir ging es gar nicht um die Befriedigung der Gerechtigkeit Gottes, sondern um die Wiederherstellung der Würde des Sünders.

Hochaktuell sind auch Ihre kurz nach dem „Proslogion“ publizierten „Dialoge über Wahrheit und Freiheit“. Warum gibt es keine Freiheit ohne die Befolgung des als wahr und gut Erkannten?

Viele Menschen meinen, frei sei, wer zwischen vielen Möglichkeiten wählen könne. Aber das ist eine sehr vordergründige Beschreibung. Bloße Wahlfreiheit lässt Menschen nicht selten zum Spielball des jeweils Bequemeren oder Leichteren werden. Wirkliche Freiheit (libertas) ist mehr als Wahlfreiheit (liberum arbitrium). Sie ist die Entschiedenheit zu dem, was wir als richtig erkannt haben.

Ein Mönch, der seine Berufung in die besondere Nachfolge Christi als seine Richtigkeit erkannt hat und sich unwiderruflich zu dieser Richtigkeit entscheidet, hat seine Freiheit realisiert, weil er sein will, was er immer schon sein soll. Wer sich gegen das als richtig Erkannte entscheidet, wird nicht frei, sondern unfrei. Wer zum Beispiel zu viel Alkohol konsumiert, bindet sich nicht an das, was er als richtig erkannt hat, sondern an das, was falsch ist. Wer freiwillig auf Alkohol verzichtet, wahrt seine Freiheit. Wer seinem Trieb folgt, wird unfrei.

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Was würden Sie den jungen Menschen sagen, die heute den Mut haben, Theologie zu studieren?

Zur Denkkultur des Theologen gehört ein gründliches Studium der Philosophie. Es schult den Blick für den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen. Für den Theologen ist der Philosoph ein heilsamer und zugleich unbequemer Kontrahent, weil er die ständige Versuchung entlarvt, sich mit bloßen Ausschnitten der Wirklichkeit zufriedenzugeben.

Je intensiver das Studium der Philosophie, um so aufgeschlossener der Sinn für den denkerischen Überschuss der Theologie.

Wer Menschen positivistisch um die Ohren schlägt, was die Kirche für wahr und gut hält, ohne die Frage nach dem Warum beantworten zu können, hat seine Berufung verraten. Der Theologe ist kein Archivar. Er trägt denkerische Verantwortung für die Gegenwart. Die aber ist nur möglich, wenn man nie fertig ist mit dem Fragen und dem Suchen. Und dieses Fragen und Suchen beginnt mit dem Beten.

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