Verehrte Frau Haid, in der Corona-Krise sind alle irgendwie überfordert: Regierungen, Mediziner, Wissenschaftler, aber auch Schulen, Lehrer und Eltern. Wie wirkt sich das auf die Kinder aus?
Sie sind in einem hohen Maß verunsichert. Ihr ganzes Umfeld wurde aus den Angeln gehoben, und jeden Tag gibt es neue Informationen. Die Verunsicherung der Erwachsenen, insbesondere der Eltern, Kindergartenpädagogen und Lehrer, überträgt sich jedenfalls auf die Kinder. Sie sind dann vielfach irritiert und reagieren in unterschiedlicher Weise.
Wie genau spiegeln sich die Überforderung, der Stress und die Unsicherheit der Erwachsenenwelt in der psychischen Verfassung der Kinder?
"Das Gute an der Psyche von Kindern ist,
dass sie gut in ihre eigene, imaginäre Welt abtauchen können"
Viele reagieren mit einem Rückzug in ihre Welt. Das Gute an der Psyche von Kindern ist, dass sie gut in ihre eigene, imaginäre Welt abtauchen können. Das ist an sich eine gute Strategie. Wenn es aber zu viel wird, kann daraus ein dauerhafter Rückzug mit depressiven Symptomen werden. Auf der anderen Seite legen manche Kinder ein aggressives, störrisches Verhalten an den Tag. Gesund ist das nur, solange sie ihren Unmut kundtun und ihre Probleme benennen können. Wir sehen derzeit ganz viele psychosomatische Reaktionen: Essstörungen, Schlafstörungen und Haut-Reaktionen, denn die Haut ist der Spiegel der Seele.
Was wiegt mit Blick auf die Kinder-Psyche schwerer: die objektive Unberechenbarkeit der Pandemie oder die subjektive Verunsicherung der Bezugspersonen?
Letzteres. Eltern dürfen schon sagen, dass sie selbst verunsichert sind, aber es muss klar sein, dass alle Verantwortung bei den Erwachsenen liegt. Ich nenne das die Wiederherstellung der Weltordnung: Die Verantwortung liegt grundsätzlich bei den Erwachsenen. Das Kind ist weder schuld noch verantwortlich.
Wie viel an Stabilität brauchen Kinder, um psychisch gesund aufzuwachsen?
Das ist ganz unterschiedlich. Wir Erwachsenen müssen aber in einer verrückten Welt ein höchstmögliches Maß an Sicherheit herstellen.
Es braucht also jemanden, der trotz unbewältigbarer Krisen den Kindern sagt, dass das Leben grundsätzlich schön und die Welt ein guter Ort ist?

Ganz genau! Ohne zu wissen, wann und wie, können wir ihnen sagen, dass es auch wieder anders werden wird. Die erwachsenen Bezugspersonen sollten mit Ruhe und Gelassenheit agieren, das hilft gegen diese Atmosphäre der Hysterie. Ich sehe uns alle derzeit in einem Dampfdrucktopf. Wir wären alle gut beraten, uns zu beruhigen. Wichtig ist, im Hier und Jetzt zu bleiben. Denn wenn wir ehrlich sind, haben wir vor der Pandemie auch nicht gewusst, was die Zukunft bringt.
Verunsicherung herrscht derzeit auch in der unmittelbaren Lebenswelt der Kinder. Alles ist unsicher geworden: Schule, Ausbildung, Karrierepläne, Arbeitsmarkt. Was macht das mit den Zukunftshoffnungen und Zukunftsängsten der Kinder und Heranwachsenden?
Im schlimmsten Fall bewirkt das Perspektivlosigkeit und Resignation. Ich setze in der Therapie auf Hoffnung: Keiner kann alles lösen, aber jeder kann im Kleinen etwas beitragen. Das bringt uns aus der Ohnmacht heraus.
Eine weitere Quelle von Verunsicherung ist das Internet mit seinen unendlichen Welten, auch an Gewalt, Pornografie, Horror. Nicht erst ab der Pubertät haben Jugendliche heute meist unkontrollierten Zugang dazu. Eine Überforderung?
"Die Kinder sind oft in den virtuellen Welten
alleine unterwegs. Da wären die Eltern gefordert,
das Medienkonsumverhalten der Kinder zu steuern"
Die Kinder sind oft in den virtuellen Welten alleine unterwegs. Da wären die Eltern gefordert, das Medienkonsumverhalten der Kinder zu steuern. Dafür gibt es Möglichkeiten. Oft kriegen die Kinder aber etwas über die Smartphones der Schulkameraden mit. Da werden etwa in der Pause Pornos geschaut, und dann kommt der Zehnjährige völlig verstört nach Hause.
Also doch kein Smartphone in Kinderhand?
Mit sechs Jahren muss es wirklich kein Smartphone geben, aber ab dem Ende der Volksschule kommt man kaum noch daran vorbei. Sonst werden die Kinder Außenseiter, und das macht auch etwas mit ihrer Psyche. Es ist auch nicht alles nur Nonsens, was sie sich da reinziehen. Wichtig sind eine zeitliche Limitierung, also Smartphone-freie Zeiten, und direkte Gespräche.
Mittlerweile sind ja vielfältige psychische Folgen des Smartphone- und Internetkonsums sichtbar.
Es gibt einen Druck, immer erreichbar und informiert zu sein, dann die Angst, ausgeschlossen zu werden und etwas zu verpassen, oder das Versinken in fremden Rollen. Die ständigen Bewertungen in der virtuellen Community machen abhängig: Da wird der Selbstwert gepusht oder fällt zusammen.
Wir haben demografisch einen dramatischen Kindermangel, aber die wenigen Kinder werden dann als „Wunschkind“ mit vielen Erwartungen beladen. Sie sollen jedenfalls hochbegabt und talentiert sein, kriegen jede Menge Frühförderung – eine Überforderung?
"Vielfach werden die eigenen Wünsche und Träume
der Eltern in das Kind hineininterpretiert, auf dass es
das ungelebte Leben der Eltern leben möge!
Das sehe ich als großes Problem unserer westlichen Welt: immer höher, schneller, weiter. Es gibt Erwartungshaltungen bereits vor der Geburt des Kindes. Vielfach werden die eigenen Wünsche und Träume der Eltern in das Kind hineininterpretiert, auf dass es das ungelebte Leben der Eltern leben möge. Es gibt die sogenannten Helikopter-Eltern, die ihr Kind überwachen. Schlimmer noch sind die Schneepflug-Eltern, die ihren Kindern alle Probleme aus dem Weg räumen und jeden Weg bahnen. Aber am schlimmsten sind die Rasenmäher-Eltern, die auch noch dafür sorgen, dass jeder Grashalm mit der Nagelschere auf dieselbe Höhe gestutzt wird. Dadurch sorgen sie dafür, dass die Kinder zu lebensunfähigen Erwachsenen werden. Diese Kinder spüren nie eine Selbstwirksamkeit, sondern haben immer das Gefühl, dass alles die Eltern gemacht haben.
Da legen Sie jetzt eher die Eltern auf die Couch als die Kinder.
Ja. Wenn man mit Kindern arbeitet, ist die Elternarbeit ganz elementar. Viele Eltern kommen zu mir und sagen: Machen Sie mein Kind gesund! Aber so funktioniert die Psychotherapie bei Kindern nicht! Man braucht das ganze System. Das Kind ist oft der Systemträger – und es ist ganz sicher nicht schuld. Ich ersetzte die Schuld-Frage immer durch die Frage nach der Verantwortung.
Woher kommt das Helikopter-, Schneepflug- oder Rasenmäher-Verhalten bei manchen Eltern?
Ursächlich sind oft die eigenen, ungelebten Sehnsüchte der Erwachsenen. Auch der eigene Perfektionismus als Mutter oder Vater. Ich sage den Eltern dann: Sie sind gut genug; Sie müssen nicht perfekt sein. Oft sind die Leistungsansprüche von Eltern immens hoch. Die Gefahr ist, dass selbstunsichere Kinder herangezüchtet werden, aber umgekehrt auch, dass sie ein grandioses Selbst entwickeln. Kinder, die ständig gelobt werden, sind oft ganz unsympathisch und haben wenig Freunde. Teilweise erziehen wir uns Narzissten und Tyrannen, aber auch selbstunsichere Kinder.
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