Zeiten großer Veränderungen rufen Pioniere auf den Plan – Menschen, die aus den Trümmern des Vergangenen etwas Neues schaffen und doch die Glut der Tradition bewahren. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg stand Deutschland vor großen Umwälzungen, als die Monarchie Geschichte war: Deutschland musste sich in der jungen Weimarer Republik neu aufstellen – politisch, wirtschaftlich, aber auch in seiner Kirchenverfassung. Es war die Zeit der bis heute gültigen Konkordate, die der Heilige Stuhl erst mit den einzelnen deutschen Ländern, dann mit dem gesamten Reich abschloss. In der Reformation untergegangene Diözesen entstanden wieder neu, auch die Reichshauptstadt wurde nach Abschluss des Konkordats endlich auch Sitz eines katholischen Bischofs.
Einer dieser „Pioniere“ auf katholischer Seite war Bischof Christian Schreiber. Gleich zwei Mal wurde er Gründungsbischof einer neu geschaffenen Diözese – 1921 im wiedererrichteten Bistum Meißen mit Bischofssitz in Bautzen, dann ab 1929 als erster Bischof von Berlin. Am 3. August wäre Bischof Schreiber 150 Jahre alt geworden: Aus diesem Anlass haben die Diözesen Dresden-Meißen und Berlin kürzlich in einer gemeinsamen Tagung im Bildungsgut Schmochtitz bei Bautzen auf das Leben und Wirken dieses „Pionierbischofs“ zurückgeblickt. Dabei ist das heutige „Bildungsgut“ mit dem Meißner Altbischof eng verbunden: Einst saß hier das Priesterseminar des sächsischen Bistums, 1927 von Schreiber anstelle des „wendischen Seminars“ in Prag gegründet, an dem jahrhundertelang die Priester für die Lausitzer Region ausgebildet worden waren. Benannt ist das Bildungsgut in Schmochtitz heute nach Bischof Benno – dass es nicht Schreibers Namen trägt, geht auf Konflikte mit der sorbischen Minderheit zurück, die bis heute nachwirken. Auch diesem schwierigen Verhältnis ist die Tagung in einem Vortrag von Jens Bulisch nachgegangen, der auf der Tagung verlesen wurde.
Das kulturelle Erbe dieser seit über 1400 Jahren in der Lausitz lebenden Minderheit ist hier unübersehbar: Zweisprachige Ortsschilder und doppelte Straßenbezeichnungen machen deutlich, dass hier zwei Nationalitäten zu Hause sind. Um das Jahr 1000 siedelten sich immer mehr Deutsche in der Region östlich des heutigen Dresden an. Fortan mussten sich zwei Völker miteinander arrangieren – denn die Sorben, lange Zeit auch als Wenden bezeichnet, sind ein eigenes Volk mit eigenständiger Sprache und Kultur. Bischof Schreiber wusste davon offenbar wenig, als er 1921 erster Bischof von Meißen nach der Reformation wurde. Deutsche und Sorben hatten gemeinsam, dass die Mehrheit in den sächsischen Landen evangelisch geworden war, nur um die Klöster Neuzelle im südlichen Brandenburg sowie Marienstern und Marienthal blieben die Sorben mehrheitlich katholisch. Das damalige Bautzner Kollegiatstift, das später auch Domstift genannt wurde, blieb über Jahrhunderte ein katholischer Anker in einem weitgehend protestantischen Umfeld.
Bischof Schreiber lag eine würdige Liturgie am Herzen
Diese Situation dürfte für Christian Schreiber nicht neu gewesen sein: Geboren in Somborn in der osthessischen Gemeinde Freigericht an der Grenze zu Bayern, wuchs er in einer katholischen Enklave in einer überwiegend evangelisch geprägten Region auf. 1892 trat er ins Priesterseminar in Fulda ein, doch wurde er schon bald wegen seiner großen Begabung ans Collegium Germanicum et Hungaricum nach Rom entsandt, eine katholische Eliteeinrichtung und „Kaderschmiede“, an der er schließlich auch promovierte. Der Theologiestudent Raphael Streb von der Universität Würzburg – er stammt ebenfalls aus Freigericht – erinnerte in seinem Vortrag an die Gründungsgeschichte des „Germanicums“ kurz nach der Reformation. Die damals bestehenden Missstände im deutschen katholischen Klerus sollten durch eine Reform der Priesterausbildung beseitigt werden und einen fähigen, im römisch-katholischen Glauben verankerten Klerus hervorbringen.
Diese Grundüberzeugung, „romtreue“ und glaubensfester Priester für den deutschsprachigen Raum auszubilden, die dort ihren Beitrag zur Verteidigung und auch zum Wiederaufbau des katholischen Glaubens leisten sollten, prägte auch das theologische Denken und Handeln Schreibers in besonderer Weise, hob Streb hervor. Das habe sich zum einen im hohen Stellenwert der Liturgie gezeigt. Auf eine solide liturgische Ausbildung in der „ganzen Strenge der Liturgie“ wurde im Germanicum viel Wert gelegt. Die Heilige Messe sollte stets treu nach den Rubriken sowie mit „frommem Ernst und Genauigkeit“ gefeiert werden.
Hinzu kam eine besondere geistliche Prägung. „Ein noch höherer Wert als auf die geistige und praktische Ausbildung der Alumnen wird auf ihre aszetische Erziehung gelegt, bei der nicht äußere Übungen der Frömmigkeit, sondern die Vervollkommnung des inneren Menschen, der Geist der Selbstverleugnung und eine wahrhaft priesterliche Gesinnung als Hauptsache angesehen werden“, berichtet Kardinal Steinhuber in seiner Geschichte des Germanicums.
Ein Antimodernist, der die Zeichen der Zeit wahrnahm
Dementsprechend sprach Streb in seinem Vortrag von einer Ausbildung „mit gegenreformatorischer und jesuitischer DNA“. Dieses Programm habe Bischof Schreiber verinnerlicht, wie sich beispielsweise an seinem Bild vom katholischen Priestertum erkennen lasse. Der Priester, so Schreiber in einem seiner zahlreichen Briefe, werde in Deutschland von Katholiken wie Nichtkatholiken geschätzt, sei der geborene „Führer des Volkes“ und außerdem hänge von der Vortrefflichkeit des Klerus die Zukunft des Reiches Christi ab. Doch Schreiber habe zugleich vor Hochmut gewarnt, der aus diesem Priesterbild folgen könne, so Streb. So habe Schreiber eine traditionelle Auffassung von einem kargen Opferleben vertreten, das weltlichen Genüssen weitgehend entsagt und ganz auf Jesus Christus ausgerichtet sei.
Doch Raphael Streb betonte in seinem Vortrag ebenso die „Zweidimensionalität“ Schreibers: Einerseits war er ganz im traditionellen, neuscholastischen Denken seiner Zeit verhaftet, unterschied scharf zwischen „Weltgeist“ und Katholizismus und betonte den uralten Topos der Spannung zwischen dem Sein und dem Wirken in der Welt und der christlichen Weltdistanz, so der Theologiestudent. Doch Bischof Schreiber hatte auch eine gewissermaßen „moderne“ Seite: Er sah sich als Seelsorger für die Menschen seiner Zeit und betonte immer wieder – trotz aller Distanz – die Notwendigkeit, auf die Lebenssituation und die gegenwärtigen Bedürfnisse der Gläubigen, insbesondere auch in der Beichte, einzugehen.
Insgesamt kommt Streb daher zu einem zwiespältigen Urteil über den früheren Meißner und Berliner Bischof. Er nennt ihn einen „konservativ-traditionell eingestellte(n) Vertreter“, bezeichnet ihn als Antimodernisten, „ultramontan und nahezu bedingungslos romtreu“. Schreiber habe die kirchliche Autorität und den Gehorsam hochgehalten, reformkatholische Bewegungen oder liturgische Reformen habe er abgelehnt. Dennoch, so Streb, sei der Bischof kein Traditionalist gewesen. Die Kirche habe er als „Retterin aller Zeiten“ betrachtet – und damit auch die Notwendigkeit gesehen, dass sie sich stets an die Zeiten anpassen müsse – wenngleich diese Reformen im Geist Christi geschehen müssten. Ein festes Glaubensfundament, ohne für die „Zeichen der Zeit“ blind zu sein – damit kann Bischof Christian Schreiber durchaus ein Impulsgeber für heutige Reformdebatten sein.
Deutschnationale Fettnäpfchen
1907 wurde er Regens des Fuldaer Priesterseminars, bis er 1921 von Papst Benedikt XV. nach Bautzen entsandt wurde. Die dortigen Verhältnisse dürften ihm fremd gewesen sein, als er im September 1921 die wiedererrichtete Diözese in Besitz nahm. Seine Berufung, so Jens Bulisch in seinem Vortrag, erfolgte ohne Rücksprache mit dem Bautzner Domkapitel, und die örtlichen Befindlichkeiten – gerade im Verhältnis zwischen Deutschen und Sorben – waren durchaus ein Fettnäpfchen, in das Außenstehende schnell hineintappen konnten.
Es dauerte daher nicht lange, bis Bischof Schreiber bei einem seiner öffentlichen Auftritte eine Aussage fallenließ, die ihm bis heute vorgehalten wird. „Ich bin ein deutscher Mann“ – diese Bemerkung wurde gerade in der sorbischen Presse, Literatur und Öffentlichkeit zu einem geflügelten Wort, betont Bulisch in seinem Vortrag. Wie sie gemeint war, mit welchem Zungenschlag sie geäußert wurde, lässt sich heute kaum mehr feststellen. Eine Tonaufnahme gibt es nicht. Dennoch wurde sie immer wieder als vermeintlicher Beweis dafür herangezogen, dass der Bischof – kurz gesagt – ein Problem mit den Sorben hatte, sie brüskieren wollte oder ihnen ablehnend gegenübergestanden haben soll. Ob er mit dieser Aussage wirklich eine deutschnationale Gesinnung zur Schau gestellt hat, bleibt im Bereich der Spekulation. Doch Jens Bulisch machte in seinem Vortrag deutlich: Ganz ohne Kontext wird diese Aussage nicht gefallen sein. Denn kirchliche und staatliche Stellen hatten gerade wegen der latenten Nationalitätenkonflikte und kleineren Absetzungsbewegungen unter den Sorben Anfang der 1920er Jahre ein Interesse daran, einen Reichsdeutschen auf dem Bischofsstuhl zu installieren. Auch das laut Bulisch ein Grund, warum die Wahl auf den Fuldaer Regens und Verwaltungsfachmann Schreiber fiel.
Ungeschickter Umgang mit den Sorben
Zumindest lässt sich festhalten: Der neue Meißner Bischof handelte in Bezug auf die Sorben zumindest ungeschickt. So setzte er 1927 in der Bautzner Pfarrei Unsere Lieben Frauen einen Priester deutscher Herkunft ein, die seit Jahrhunderten mit einem Sorben besetzt war. Damit, so der Vorwurf, habe er bewusst die sorbischen Katholiken heimatlos gemacht und eine jahrhundertealte Tradition zerstört. Neben Auseinandersetzungen mit der sorbisch-katholischen Presse, die sogar Wellen bis nach Rom schlugen, kam die Auseinandersetzung um das sogenannte „Wendische Seminar“ hinzu. Die Einrichtung in Prag war mehr als ein Priesterseminar. Seit dem 18. Jahrhundert, so betont Jens Bulisch in seinem Vortrag, war sie auch eine Internats- und Studienstätte für katholische Schüler und Studenten aus der Lausitz. Bereits vor der Wiedererrichtung des Bistums seien sich deutsche Behörden und der Heilige Stuhl einig gewesen, ein neues Priesterseminar auf deutschem Boden zu errichten. Hinzu kam, dass zum Schluss nur noch fünf von 20 Studenten sorbischer Herkunft waren – das Seminar war, so Bulisch, offenbar nicht mehr der bevorzugte Anlaufpunkt sorbischer Seminaristen.
Dennoch war die Außenwirkung der Schließung des Prager Seminars enorm. Schreiber selbst, so Bulisch, habe die Aufregung nicht verstanden – schließlich sei in Prag keine Unterweisung mehr in sorbischer Sprache erfolgt, zudem liege das neu errichtete Seminar in Schmochtitz bei Bautzen mitten im sorbischen Siedlungsgebiet. Vielleicht wäre die Schließung des Wendischen Seminars eher akzeptiert worden, wenn es nicht Schreiber gewesen wäre, der diesen in vielen Punkten durchaus sinnvollen Schritt vollzog. Obwohl sich Bischof Schreiber viele Verdienste um den Wiederaufbau diözesaner Strukturen im heutigen Bistum Dresden-Meißen erworben hat, ging es – was das Verhältnis zu den Sorben angeht – Anfang der 1930er-Jahre nicht ohne Bürden als (wiederum erster) katholischer Bischof nach Berlin.
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