Benedikt XVI.

Benedikt XVI. und die Res Civitas

Politische Theologie bei Ratzinger. Eine Verhältnisbestimmung von Religion und Politik im Anschluss an Augustinus.
Deckenfresko
| Das Deckenfresko im Aachener Dom zeigt die "Civitas Dei", von der Augustinus sprach.

Zu den oft übersehenen, jedoch immer wiederkehrenden Motiven im wissenschaftlichen Nachlass Joseph Ratzingers gehört die Politische Theologie, die Frage also, wie das Verhältnis von Theologie und Politik sachlich und grundsätzlich bestimmt werden kann. Schon in der 1951 abgeschlossenen Dissertation des blutjungen, knapp 24 Jahre alten Schülers von Gottlieb Söhngen kommt dieser im Rahmen seiner ausgreifenden Deutung des Philosophen und Theologen Aurelius Augustinus auf die genannte Frage zu sprechen, und zwar im Rückgriff auf die Unterscheidung des römischen Historikers Marcus Terentius Varro, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert lebte und auf den Augustinus im „Gottesstaat“ Bezug nimmt. Varro unterscheidet zwischen der mythischen, der naturalen – physischen – und der zivilen – politischen – Theologie; diese hat den öffentlichen Kult zum Inhalt und dem Wohl des Staates zu dienen.

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Den Staat geduldig ertragen

Politische Theologie zielt nicht auf Gott, sondern auf Religion. Augustinus, so Ratzinger, stellt sich auf die Seite der naturalen Theologie – mit weitreichenden Folgen: Denn die Religion – und ihre Funktion – tritt damit in den Hintergrund. Es geht der naturalen Theologie um die Erkenntnis Gottes, nicht um den Zusammenhalt der Gesellschaft. Und hier zeigt sich die – nach antikem Verständnis nicht anders als „Atheismus“ zu bezeichnende – Innovation des Christentums, das von Staatskulten nichts wissen will.
Augustinus bricht auf diese Weise mit dem ganzen alten Verständnis von religio, die immer zivile – politische – Theologie war, und hält die Auffassung des Christentums dagegen: Während die Römer – wie zuvor die Griechen – zuerst die Civitas gründeten, die sich dann ihre Religion gab, steht im Christentum zuerst Gott im Mittelpunkt und dann erst die Gemeinschaft der Menschen, die in ihm, Gott, ihre Einheit finden. Damit wird das pagane Verständnis von Religion vom Kopf auf die Füße gestellt: Fand sich bis dahin die Norm der Religion in der Civitas, also dem Gemeinwesen, der res publica, so behauptet das Christentum den einzigen wahren Gott als die schlechthinnige Norm der Religion.

Ratzinger folgt Augustinus und schließt sich dieser Überzeugung an – um ihr ein Leben lang treu zu bleiben. Schon 1951 stellt er fest: Augustinus ist nie ein inneres Bündnis mit dem Staat eingegangen; er ertrug ihn geduldig, „so wie er nun einmal ist“, und versuchte nicht, „ihn zu ändern, weil er nun einmal außerhalb der christlichen Möglichkeiten liegt“, um dann schon damals, 1951, hinzuzufügen: „man kann vielleicht auch fragen“, ob diese Haltung „nicht heute manchmal richtiger wäre als Verchristlichungsversuche, denen der Boden der Tatsachen fehlt.“

Mit dem „Boden der Tatsachen“ sind hier freilich nicht soziale oder politische Sachverhalte, die einer Verchristlichung des Gemeinwesens im Wege stehen, gemeint, sondern jene innere Beschaffenheit des Christentums als einem Glauben, für den das Gemeinwesen außerhalb seiner Möglichkeiten liegt. Ratzinger ist sich jedenfalls gewiss, dass es „Augustin auf eine eigentliche Verchristlichung des öffentlichen Lebens als solchen eigentlich nicht ankommt“.

Missionarische Dimension des Gottesbegriffs

Eine solche Überzeugung ist dazu angetan, heute unter Christen für reichlich Kopfschütteln zu sorgen. Zu fragen aber ist, ob diese Empörung tatsächlich aus dem Geist des Christentums erwächst, oder doch eher der ferne Nachklang eines langen – und allermeist unseligen – Bündnisses zwischen Christentum und Staat ist. Allzu oft bemühten sich Christen in der Geschichte der letzten zwei Jahrtausende darum, nicht nur um ihres Überlebens willen als staatsloyal zu gelten, in Deutschland zuletzt und besonders im späteren neunzehnten Jahrhundert. Ist dieses Bemühen durch den Glauben tatsächlich geboten? Anders gefragt: Mündet die Politische Theologie des Christentums wirklich in einen weltlichen Gestaltungsauftrag? Oder hat Ratzingers Deutung der Politischen Theologie des heiligen Augustinus, demzufolge sich die Haltung des christlichen Caesars ebenso wie die des christlichen Civis in der Duldung – nämlich der „Toleranz auch noch gegenüber dem verworfensten Staatswesen“ – erschöpft, nicht vielleicht die besseren Gründe für sich? Hatte möglicherweise Angelus Silesius im siebzehnten Jahrhundert doch Recht, wenn er schreibt, dass jeder, der Gottes Ruf folgen will, die Welt verlassen muss?

In seiner Bonner Antrittsvorlesung „Zum Problem der theologia naturalis“ bezeichnet Ratzinger das Philosophische als „geradezu die missionarische Dimension des Gottesbegriffs“, nämlich als „jenes Moment, womit er sich verständlich macht nach außen hin“. Dieser Hinweis ist alles andere als belanglos. Denn er verweist auf eine scharfe Begrenzung der Mittel, derer sich der Glaube zu seiner Verbreitung bedienen darf. Ganz in diesem Sinne ist auch jene – vielfach bewusst missverstandene – Passage über das Gespräch von Manuel II. Palaeologus und einem muslimischen Perser in der „Regensburger Vorlesung“ zu verstehen: Der Kaiser, also ausgerechnet der Politiker, begründet, warum Glaubensverbreitung durch Gewalt widersinnig ist. Gott handelt „syn logo“, durch Vernunft und Wort: „Der Glaube ist die Frucht der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemandem zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken.“

 

 

Gegensatz der Gemeinwesen 

Was nun hat das mit Politischer Theologie zu tun? Die Waffen der Politik sind – auch im demokratischen Staat – Macht und Gewalt, die Waffen der Religion hingegen – auch im totalitären Staat – Vernunft und Wort. Diese Unterscheidung macht deutlich, wie tief der Graben zwischen der civitas terrena und der civitas Dei ist; beide Gemeinwesen stehen in einem bleibenden Gegensatz zueinander. Die Kluft kann von keiner Zivilreligion, die ja doch immer zum Nutzen und Frommen des Staates ist und sein soll, überbrückt werden. Wer also den Glauben verkündigt, kann sich nicht, auch wenn es die eigene Akzeptanz erhöht, auf zivilreligiöse Appelle beschränken, und wer die Macht zu gestalten hat, kann nicht, auch wenn es die eigene Legitimation erhöht, den Glauben für sich vereinnahmen. Vom christlichen Caesar wird vielmehr erwartet, dass er um die Verworfenheit der Macht weiß, die nur zu dulden – und nicht um ihrer selbst willen anzustreben – ist.

Eine freiheitliche politische Ordnung, die mit gutem Grund auf der unüberbrückbaren Verschiedenheit von Herrschaft und Heil beharrt, ruht auf einer Grundlage, die alle Rechtmäßigkeit der Meinungsvielfalt hinter sich lässt. Dieser Satz, der zunächst so leichtfüßig daherzukommen scheint, birgt eine innere Spannung, ja Sprengkraft, die nicht unterschätzt werden darf. Denn damit stellt sich, in den Worten Benedikts, „die Frage, ob es nicht doch einen nichtrelativistischen Kern auch in der Demokratie geben müsse: Ist sie denn nicht letztlich um die Menschenrechte herumgebaut, die unverletzlich sind, sodass gerade ihre Gewährung und Sicherung der tiefste Grund ist, warum Demokratie als nötig erscheint?

Die Wahrheitsfrage

Die Menschenrechte unterliegen nicht ihrerseits dem Pluralismus- und dem Toleranzgebot, sie ,sind' der Inhalt der Toleranz und der Freiheit. Den anderen seines Rechtes zu berauben kann niemals Inhalt der Freiheit sein. Das bedeutet, dass ein Grundbestand an Wahrheit, nämlich an sittlicher Wahrheit, gerade für die Demokratie unverzichtbar zu sein scheint“. Damit aber ist deutlich: Eine Verfassung, die ihren letzten Bezugspunkt im Begriff der Menschenwürde bestimmt, folgt einer Wahrheit, die alles Bedingte unserer Erfahrung übersteigt – also die Frucht einer Entweltlichung ist.

Ist das nicht eine ungeheuerliche Anmaßung, eine kaum erträgliche Bevormundung? Und ist das nicht ein in hohem Maße angreifbarer, ja anstößiger Satz? Ist nicht die Demokratie ausweislich ihres eigenen Selbstverständnisses doch gerade die Staatsform, die ausdrücklich auf eine Beantwortung der Wahrheitsfrage verzichtet, ja, auf ihre Ausklammerung zielt und von jeder Bezugnahme zum Absoluten Abstand nimmt? Ist es nicht ein Widerspruch in sich, wenn Demokratie und Pluralismus, die wir heute als freies Spiel der Kräfte und Meinungen begreifen, hinnehmen müssen, dass die Regeln, nach denen gespielt wird, einer Absicht folgen sollen, die ihre Begründung nicht im Relativen, sondern im Absoluten sucht, also nicht von einer Mehrheit, sondern von der Wahrheit empfängt? Aller Politik geht eine Anthropologie voraus.

Die Menschenwürde

Das anthropologische Fundament der pluralistischen Demokratie findet sich in einem Bild vom Menschen, der als unhintergehbarer Schlusspunkt aller Absichten und Zwecke zu verstehen ist. Diese Unantastbarkeit des Menschen „an sich“ wiederum macht sein Leben zu etwas Heiligem. Das ist der Grundstein, auf dem die politische Verfassung einer freiheitlichen Ordnung ruht. Damit aber ist klar: Der Bezugspunkt einer rechtmäßigen Ordnung der Herrschaft liegt jenseits dieser Ordnung, im Begriff der Würde, im Unbedingten.

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Folgt die Demokratie dieser Selbstvergewisserung, bleibt sie sich jener Grenze, die zwischen Religion – dem Unverfügbaren – und Politik – dem Machbaren – verläuft, immer bewusst. Die Erforschung der Topografie dieses Grenzgebietes ist entscheidend für die Überlebenskraft des Begriffs der Menschenwürde, weil dieser gerade nicht der Welt des Bedingten entstammt, sondern wie kein anderer Ankerbegriff jeder freiheitlichen Ordnung vorangeht und dieser ihr Recht gibt. Damit erhält die augustinische Unterscheidung einen neuen, zeitgemäßen Sinn: Ist die strikte Trennung von civitas terrena und civitas Dei nicht unverzichtbar, um den Menschen vor der Politik zu schützen, wenn diese die ihr eigenen Mittel, Macht und Gewalt, missbräuchlich einsetzt, um sich dessen zu bemächtigen, was unverfügbar bleiben muss, sofern nicht das Gemeinwesen in offene oder unterschwellige Barbarei abgleiten soll?

Gleiche Würde 

Ist nicht diese Politische Theologie, die eine ex negativo unüberbrückbare Grenze bestimmt, allemal entscheidender und wichtiger als der von vorneherein zum Scheitern verurteilte Versuch, die Gesellschaft zu „verchristlichen“, weil Religion nur in der Achtung dieser Differenz zur Politik menschliche Würde gegen eine schleichende Aushöhlung – Benedikt XVI. spricht von einer „stillen Auszehrung“ – retten kann? Im Begriff der unantastbaren Würde des Menschen verbinden und versöhnen sich Politik und Religion paradoxerweise gerade dann, wenn sie zueinander auf Distanz gehen.

Mit seinem Verweis auf die Metaphysik der Demokratie hat Benedikt XVI. darauf aufmerksam gemacht. Dass ausnahmslos jeder Mensch gleich ist in seiner Würde: Das zu achten muss der Politik immer schwer fallen. Denn wer die Macht hat, besitzt sie deshalb, um andere nach seinem Willen und seinen Plänen zu lenken. Das einzig verfügbare Verkehrszeichen, das der Politik in diesem ihrem ureigenen – und durchaus rechtmäßigen – Anliegen die Grenze weisen kann, ist Religion.

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