Wir schreiben das Jahr 50 nach Christus. Paulus steht auf dem Areopag inmitten von Athenern, die an verschiedene Götter glauben und unterschiedlichen philosophischen Strömungen nachgehen. Der Apostel zürnt ihnen deswegen nicht, sondern entdeckt eine Leerstelle, bei der er seine Verkündigung ansetzt: dem Altar, den die Athener dem unbekannten Gott geweiht haben. „Ich lade Sie ein auf einen modernen Areopag.“
Spiritualität - mit Taro, Yoga und Evangelium
Mit diesen Worten begrüßte Johannes Hartl die Teilnehmer der Tagung „Spiritualität im 21. Jahrhundert“, die vergangene Woche an der Philosophisch-Theologischen Hochschule stattgefunden hat. Auf diesem Areopag des Jetzt tummelten sich die verschiedensten Spiritualitäten, angefangen bei Yoga, über Tarot bis hin zu Ratgeberliteratur über Dankbarkeit oder Achtsamkeit.
Wollten gläubige Menschen sprachfähig sein und das Evangelium gut präsentieren, müssten sie wissen, welche Trends gerade im Umlauf seien, lehrte der Autor und Gründer des Gebetshauses Augsburg. „Spiritualität ist ein Megathema in unserer Gesellschaft und wir Christen hätten unglaublich viel anzubieten“, bemerkte Hartl. Studien zufolge sagten 20 Prozent der Frauen und 15 Prozent der Männer, sie seien spirituell suchend. Das seien 20-mal mehr Menschen als in Deutschland jeden Sonntag in die Kirche gingen. Leider werde Kirche nicht mit Spiritualität in Verbindung gebracht.
Auf der Suche nach „Altären des unbekannten Gottes"
Begriffe wie „Mönch“ oder „Kloster“ würden eher mit dem Buddhismus assoziiert werden. Dies sei auch der Grund dafür gewesen, warum er sein Buch „Eden Culture“ verfasste, das es auf die Spiegel-Bestsellerliste schaffte und ein säkulares Publikum ansprechen soll. Hartl kritisierte, dass Christen viel zu wenig für die Nöte der Menschen anbieten würden, zum Beispiel in Form von YouTube-Videos zu brennenden Fragen wie „Was kann ich machen, wenn ich Selbstmordgedanken habe?“ oder „Was kann ich tun, wenn ich mich einsam fühle?“.
Konservative Christen würden oft beim Sich-Empören über die säkulare Kultur stehen bleiben. Nicht so Paulus vor fast 2 000 Jahren. Der Jünger Jesu hätte einen Anknüpfungspunkt, eine „Leerstelle im System“, bei den Athenern gesucht. Er benannte ihr spirituelles Streben sogar als „gottesfürchtig“. Wie Paulus sollten sich auch Christen heute auf die Suche nach „Altären des unbekannten Gottes“ in der Gesellschaft machen.
Risiken und Nebenwirkungen moderner Altäre
In seinem zweiten Vortrag „Risiken und Nebenwirkungen“ am Freitagvormittag stellte Hartl zehn solcher modernen „Altäre“ vor und hob hervor, was an jedem positiv sei und wo die Gefahren lägen. Einer dieser kulturellen Megatrends sei der Hype um Gesundheit. „New Health“ sei einer der größten Märkte weltweit. Das Ziel spirituellen Wachstums sei körperliches Heilwerden. Die Brücke dieses Trends zum Christentum ist für Hartl die Tatsache, dass Heilung besonders im Neuen Testament omnipräsent sei.
Gott ginge es immer um die ganze Person, nicht nur um die seelische oder geistige Seite. Menschen hätten heute eine starke Intuition, dass das moderne Leben nicht gesund sei, würdigt Hartl. Die Gefahren dieses „Altares“ seien eine Harmonie- und Wellnesskultur. Die Realität eines kranken und sterblichen Körpers sowie die Tatsache, dass der Mensch keine Insel für sich sei und in Beziehungen stehe, „stören“ die eigene Harmonie.
Beziehung bleilbt auf der Strecke
Das gesunde Auge sehe nicht sich selbst. Wenn es das täte, hätte es eine Linsentrübung. „Sinn ist nie in der Introspektion“, sagte Hartl, der damit auf eine Metapher des Psychologen Viktor E. Frankls referierte. „Als sinnvoll empfinden wir gerade nicht das, wo es nur um uns geht“, erklärte der Theologe, der schon 2018 Sprecher bei einer Leadership-Tagung in Heiligenkreuz war. Was in der „Mainstream-Spiritualität“ komplett untergehe, sei Beziehung.
Auf Fragen wie „Wie gelingt Beziehung, Partnerschaft, Versöhnung?“ hätte sie kaum Antworten, da es kein Gegenüber wie im Christentum gäbe. In seinem Vortrag „Chancen und Brücken“ erläuterte Hartl, wie Christen auf die zehn Megatrends reagieren und diese als Chancen statt als Gefahren wahrnehmen können.
Spuren des Heiligen Geistes in säkularer Spiritualität
Unter den Teilnehmern der Tagung waren nicht nur Theologiestudenten der Hochschule, die sich den Kurs als Wahlfach anrechnen lassen können, sondern auch einige katholische Pfarrer. Aus Kempten im Allgäu reiste Pfarrer Bernhard Hesse an. Er kommt, wie Johannes Hartl auch, aus der Charismatischen Erneuerung. Von den Vorträgen nehme er „diesen positiven Blick auf unsere Kulturumgebung mit, die uns manchmal sehr atheistisch oder esoterisch vorkommt“. „Man kann hinter diesen negativen Seiten auch sehr viele positive Ansatzpunkte finden“, erklärte der Priester gegenüber dieser Zeitung.
Aus der Diözese Eisenstadt im österreichischen Burgenland kam Pfarrer Hubert Wieder. Er hat Hartl bei einem Gebetstreffen von evangelikalen Pastoren, zu dem auch katholische Pfarrer eingeladen wurden, kennengelernt. „Ich bin vor allem dadurch reich beschenkt worden, dass uns Hartl die Augen öffnet für die Spuren des Heiligen Geistes in der säkularen Spiritualität“, sagte Wieder.
Authentizität und Selbstkritik
Iris Milachowski, Studentin der Hochschule Heiligenkreuz, ist wieder bewusst geworden, wie wichtig es für Christen sei, authentisch zu leben. Authentizität nannte Hartl als einen gesellschaftlichen Megatrend. „Ich nehme mit, dass wir zuerst hinhören auf die Bedürfnisse und Fragen der Menschen, bevor wir antworten“, sagte die Pastoralassistentin aus Wien.
Pater Cyrill schätzt die Kritikfähigkeit Johannes Hartls gegenüber der eigenen Kirche und seinen Mut, sich der Gegenwart zu stellen. „In unseren Kreisen traut man sich nämlich oft nicht, etwas zu sagen, was Anstoß erregen könnte. Das führt aber zu einer Stumpfheit und einem Mangel an Entwicklungsfähigkeit“, kritisierte der 35-jährige Zisterziensermönch.