Kirchenlehrer

„Abschottung war noch nie ein guter Rat“

Der heilige Kirchenlehrer Albertus Magnus (1200-1280) suchte als Wissenschaftler konsequent die Wahrheit. 
Albertus Magnus Skulptur, Köln
Foto: Wolfgang Radtke

Verehrter heiliger Albertus Magnus, wo liegen die Anfänge Ihres Staunen erregenden Lebens- und Denkweges?

Ich stamme aus dem kleinen Städtchen Lauingen an der Donau; mein Vater gehörte zum Ministerialenstand. Von ihm habe ich die Liebe zur Natur. Er hat mich gelehrt, jedes Tier und jede Pflanze genau zu beobachten. Das wunderschöne Padua war die erste Station meines Studienweges. In der Rückschau und mit gläubigen Augen gesehen kein Zufall; denn dort predigte der Ordensmeister der Dominikaner, Jordan von Sachsen – eine faszinierende Persönlichkeit! Überall, wohin er kam, begeisterte er junge Studenten. Viele von ihnen gewann er für seinen Orden; so auch mich. Er schickte jeden Novizen in sein Heimatland. Deshalb mein baldiger Umzug von Padua nach Köln. In Köln habe ich mein Noviziat beendet. In Köln wurde ich zum Priester geweiht. Von Köln aus ging ich nach Hildesheim, Freiburg, Regensburg und Straßburg, um meine Mitbrüder theologisch aus- und weiterzubilden. In Köln entstanden viele meiner Kommentare, auch mein Bestseller über die Ausrichtung jedes Menschen auf das Wahre und das Gute („De natura boni“).

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Papst Urban IV. hat die Lektüre der durch die Araber nach Europa gelangten Schriften des Aristoteles verboten. Aber Sie haben dieses Verbot für falsch gehalten Warum?

Die Logik des Aristoteles, die Boethius meisterlich ins Lateinische übersetzt hat, wurde zur Pflichtlektüre jedes Studenten. Warum also sollten andere Schriften desselben Autors unter Verschluss gehalten werden? Nur weil es nicht Christen, sondern muslimische Araber waren, die Aristoteles vor dem Vergessen bewahrt haben? Wenn Christus der Mensch gewordene Logos Gottes ist und mithin die Wahrheit alles Seienden erschließt, dann ist die Wahrheitssuche des Aristoteles auch eine Suche nach Christus. Je mehr und je intensiver ich Aristoteles gelesen und kommentiert habe, desto tiefer erschloss sich mir der Glaube an Jesus Christus. Boethius hat in einem Brief an Papst Johannes I. das Prinzip aller Scholastik so formuliert: „Verknüpfe, soviel du vermagst, den Glauben mit der Vernunft!“ Gemeint ist die methodisch autonom argumentierende philosophische und naturwissenschaftliche Vernunft. In den Schriften des Boethius findet sich kein einziges Bibelwort; denn er wollte unabhängig von den Inhalten der Heiligen Schrift deren Wahrheit mit bloßen Gründen der Vernunft erweisen. Ähnlich Anselm von Canterbury, den man neben Boethius als Vater der Scholastik bezeichnet.

Warum sind alle großen Theologen des Mittelalters Mitglieder eines der beiden Bettelorden, der Dominikaner und der Franziskaner? Warum gewann die Wissenschaft ausgerechnet in diesen beiden Orden einen so hohen Stellenwert?

Die evangelische Armut wird nicht nur da gelebt, wo Menschen ihren Besitz mit den materiell Armen teilen. Die evangelische Armut ist ein Loslassen – zum Beispiel das Loslassen der eigenen Perspektiven und Interessen. Man kann die Wahrheit nur erkennen, wenn man die Wirklichkeit das sein lässt, was sie an und für sich ist. Mein Schüler Thomas von Aquin sprach deshalb von der notwendigen Keuschheit des nach Wahrheit Suchenden.

"Mit der Assistenz des genialen Thomas
gelang mir jene curriculare Strukturierung des Kölner Generalstudiums,
die Wissenschaftsgeschichte geschrieben hat."

Franziskaner und Dominikaner waren oft erbitterte Gegner. War das bloße Konkurrenz und Rivalität im Kampf um die besten Lehrer und Schüler; oder hatte diese Gegnerschaft tiefere Gründe?

Die Gründe liegen tiefer. Die Franziskaner waren Platoniker, die Dominikaner Aristoteliker. Ich gebe freimütig zu, die aristotelische Präferenz meines Ordens nach Kräften gefördert zu haben. Allerdings war ich nie ein Antiplatoniker. Denn auch aus meiner Sicht bezeichnen die „Universalien“ („Begriffe“ oder „Ideen“) Realitäten. Sie sind keine bloßen Sprachlaute oder Konstruktionen des Menschen. Sie sind aber auch nicht, wie Platon meint, die eigentliche Wirklichkeit in Absetzung von den Daten der sinnlichen Wahrnehmung. Sie sind nicht unmittelbar durch Intuition, sondern nur mittelbar durch Abstraktion erkennbar. Platoniker tendieren zur Abwertung der Vielheit zugunsten der Einheit. Aristoteliker hingegen sind zunächst „Physiker“, das heißt Beobachter dessen, was sich unseren Sinnen zeigt; und erst dann auch „Meta“-Physiker. Wie gesagt: Mir waren schon als Kind die Empiriker sympathisch, die jedes einzelne „Etwas“ so wahrnehmen, wie es ist. Ich habe – inspiriert von Aristoteles – die Diversität der Schöpfung in Büchern über Mineralien, Pflanzen und Tiere dokumentiert. Man hat mich deshalb einen Vorläufer der beobachtenden Naturwissenschaften genannt.

Wie haben Sie Thomas von Aquin kennen gelernt?

1243 wurde ich auf einen der drei Studienplätze für Dominikaner der deutschen Ordensprovinz nach Paris entsandt. Dort habe ich als Baccalaureus Sentenzen des Petrus Lombardus kommentiert und – modern ausgedrückt – meine Promotion erreicht. Von 1245-47 war ich Lehrstuhlinhaber; und in eben dieser Zeit saß ein aus Süditalien kommender Student vor mir, der – obwohl meistens schweigend – immer dann, wenn er gefragt wurde, seine Genialität offenbarte: Thomas aus Aquino. Als ich 1247 nach Köln zurückgeschickt wurde, um dort ein Generalstudium aufzubauen, hat mich Thomas begleitet. In Köln sollte ich eine Institution gründen, die – wie die Schulen von Paris und Oxford – von Studenten aller dominikanischen Ordensprovinzen beschickt wird. Bei der Grundsteinlegung des Kölner Doms am 15. August 1248 waren Thomas und ich gemeinsam zugegen. Und Thomas hat in Köln meine Vorlesungen besucht und in Mitschriften exzellent zusammengefasst – Vorlesungen zum Beispiel über Werke des Dionysius Areopagita und über die „Nikomachische Ethik“ des Aristoteles. Mit der Assistenz des genialen Thomas gelang mir jene curriculare Strukturierung des Kölner Generalstudiums, die Wissenschaftsgeschichte geschrieben hat, weil sie die methodische Autonomie der nichttheologischen Wissenschaften wahrt.

Im Unterschied zu Thomas mussten Sie den Schreibtisch oft verlassen und Aufgaben übernehmen, die eher politischer und administrativer Art waren.

Gesucht habe auch ich diese Aufgaben nicht. Aber Gehorsam bedeutet, dass man nicht selbst bestimmen will, was der Wille des Herrn ist. Als ich 1254 zum Provinzial der Ordensprovinz „Teutonia“ gewählt wurde, habe ich meine langen Fußmärsche von Kloster zu Kloster mit dem Nachdenken über Bücher der Heiligen Schrift verbunden und entsprechende Kommentare diktiert. 1256 rief mich Papst Alexander IV., um in Anagni die Anklagen des Weltklerus gegen die Bettelorden zu beantworten. Und da mir das einigermaßen gelang, hatte der Papst ein weiteres Anliegen: die Befriedung des durch Streit zerrütteten Bistums Regensburg. So wurde ich 1260 Bischof der Donaustadt – dies allerdings nur kurz. Denn nach Erfüllung der mir zugedachten Befriedung durfte ich die Leitung des Bistums wieder abgeben – verbunden mit der Bedingung, dem Papst zwei Jahre lang an den Höfen von Orvieto und Viterbo zu dienen und als Kreuzzugsprediger zu fungieren. Vermittelt habe ich auch zwischen dem Erzbischof von Köln und der Kölner Bürgerschaft. Und seit ich Bischof war, bat man mich immer wieder um die Übernahme von Visitationen, Einführungen und Konsekrationen gebeten. Eine Zeit lang lebte ich in demselben Würzburger Kloster wie mein leiblicher Bruder Heinrich. Aber Köln blieb doch der Ort, an den ich immer wieder zurückgekehrt bin.

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Sie haben scharfe Worte gefunden, wenn man die methodische Autonomie der nichttheologischen Wissenschaften beschneiden wollte. Erklärt sich so, dass Ihr Schüler Thomas schon wenige Jahrzehnte nach seinem Tod, Sie hingegen erst im 20. Jahrhundert heilig gesprochen worden sind?

Thomas war ungleich zurückhaltender als ich. Er war in demselben Maße bescheiden, in dem er allen anderen – auch mir – überlegen war. Und er hat im Unterschied zu mir wenig oder gar nicht geschimpft. Ja, ich habe die Leute, die nichts wissen, aber auf alle mögliche Weise das Studium der Philosophie bekämpfen „rohe Tiere“ genannt, „die Geschrei vollführen wider das, wovon sie nichts verstehen“. Und ich habe kein Verständnis aufgebracht für Theologen, die das, was jedermann mit seinen Sinnen überprüfen kann, mit Bibelsprüchen widerlegen wollten. Als wenn man die vom Schöpfer in die Schöpfung gelegte Wahrheit erkennt, ohne seine Geschöpfe das sein zu lassen, was sie von sich aus sind. Theologische Argumente haben innerhalb naturwissenschaftlicher Erörterungen nichts zu suchen. Ich habe meine Studenten gelehrt, dass die Vernunft nicht zuerst zu formal richtigem Denken, sondern dazu befähigt, die uns begegnende Realität so zu erfassen, wie sie sich zeigt.

Wie aber kann man unter dieser Voraussetzung die Gefahr der doppelten Wahrheit – auf der einen Seite die des christlichen Glaubens, auf der anderen die der nichttheologischen Wissenschaften – verhindern?

Ich weiß, worauf Sie anspielen. Kurz vor meinem Tod im Jahre 1280 kam es in Paris zu einem Konflikt zwischen Franziskanern und Dominikanern, der genau diese Frage betraf. Die Franziskaner wollten das Problem mit dem Hinweis lösen, dass es wichtige (aus der Offenbarung empfangene) und unwichtige (durch eigene Wahrnehmung und Reflexion erlangte) Erkenntnisse gebe. Auf diese Weise wollten die Franziskaner die Inhalte des Glaubens gegen Herausforderungen durch Philosophie und Naturwissenschaften abschirmen. Solche Herausforderungen waren zum Beispiel Thesen der arabischen Aristoteliker über die Ewigkeit der Welt oder über die Einzigkeit des Intellekts in allen Menschen. Aber Abschottung war noch nie ein guter Rat. Die Theologie muss sich jedem von außen kommenden Argument aussetzen und stellen. Sie wird irrelevant, wenn sie das in den nichttheologischen Disziplinen gesammelte Wissen ignoriert. Wer sich mit Christus verbunden weiß, hat keine Angst vor der Wahrheit.

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