Die Neuerung im Entschädigungsverfahren für Opfer sexuellen Missbrauchs gab die Deutsche Bischofskonferenz schon drei Tage vor der offiziellen Jahresbilanz bekannt: Betroffene sexualisierter Gewalt können ab dem 1. März Widerspruch gegen die Entscheidungen der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) zur Leistungshöhe einlegen. Der Betroffenenbeirat, die UKA, die Deutsche Ordensoberenkonferenz und die Deutsche Bischofskonferenz haben sich demnach einvernehmlich auf eine Ergänzung der Verfahrensordnung zur Anerkennung des Leids geeinigt, wonach Betroffene ihren einmaligen Widerspruch formlos einlegen können.
Der Betroffenenbeirat geht davon aus, dass nun zahlreiche Missbrauchsopfer eine Überprüfung ihrer Bescheide einfordern werden. Auf die UKA könnte damit in den nächsten Monaten mehr Arbeit zukommen. Und ein weiterer Punkt kommt hinzu: Die Kommission soll eventuell für weitere katholische Träger zuständig werden. „Die UKA würde eine solche Ausdehnung begrüßen, weil dadurch endlich eine umfassendere und einheitlichere Anerkennung des Leids der Betroffenen ermöglicht würde“, meinte die Vorsitzende der Kommission, die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht außer Dienst, Margarete Reske, bei der Präsentation der Jahresbilanz für 2022. Dabei hatte sich die Situation gerade entspannt. Von den insgesamt 2 112 Anträgen, die seit Beginn ihrer Tätigkeit im Januar 2021 eingegangen sind, seien laut Jahresbericht mittlerweile 1 839 bearbeitet, davon 1.809 durch eine Entscheidung der Kommission. 30 weitere Fälle haben sich auf andere Weise erledigt. Offen waren demnach zum Jahresende 2022 noch 273 Anträge.
Zahl der Neuanträge nimmt ab
„Die von uns eingeleiteten und durchgesetzten Maßnahmen zur Verkürzung der Wartezeit bis zu einer Entscheidung für die Betroffenen haben allesamt gegriffen“, sagte Reske. So tagt die Kommission nicht nur im großen Plenum, sondern auch in drei Kammern, um die vorliegenden Anträge auf Entschädigung nach erlittenem sexuellen Missbrauch schneller abzuarbeiten. 95 Mal sei die Kommission im vergangenen Jahr zusammengekommen, hieß es. Derzeit liegt die durchschnittliche Bearbeitungszeit den Angaben zufolge bei unter vier Monaten. Dies werde auch begünstigt durch eine sinkende Zahl an Anträgen: Sind im Jahr 2021 noch 1 565 Neuanträge in der Geschäftsstelle der UKA eingegangen, waren es im vergangenen Jahr noch 547. Vor allem in den ersten drei Monaten des Jahres 2021, also unmittelbar nachdem die Kommission ihre Arbeit aufgenommen hatte, gingen den Angaben zufolge gut 850 Anträge ein, seitdem hat sich die Zahl deutlich reduziert.
Insgesamt hat die Kommission den Antragstellern Anerkennungsleistungen in Höhe von über 40 Millionen Euro zugesprochen. Da aufgrund der Verfahrensordnung bereits ausgezahlte Leistungen durch kirchliche Institutionen angerechnet werden, liegt die tatsächliche Auszahlungssumme bei knapp 32, 9 Millionen Euro. Die einzelnen Beträge bewegen sich in den meisten Fällen in einer Größenordnung von bis zu 30.000 Euro. In lediglich gut acht Prozent der Fälle wurden pro Einzelfall über 50.000 Euro ausgezahlt. In knapp einem Prozent der Fälle betrug die Entschädigung über 100.000 Euro. Eine Obergrenze gibt es laut UKA-Vorsitzender Reske bei den Entschädigungssummen nicht.
Keine Obergrenze bei Entschädigungssummen
Allerdings soll die Arbeit der Kommission kein Gerichtsverfahren ersetzen. Ihr gehören nicht nur Juristen, sondern auch Ärzte und Psychologen an. Die Kommission arbeitet unabhängig von der Bischofskonferenz und ist nicht weisungsgebunden. Die Mitglieder entscheiden jeden Fall einstimmig – und zwar nach dem Kriterium der Plausibilität. Kann der Antragsteller plausibel darlegen, dass sie oder er sexuellen Missbrauch in einer Einrichtung der katholischen Kirche erlitten hat, so entscheidet die UKA auf Zuerkennung einer Entschädigungssumme. Das hat für die Betroffenen einige Vorteile: Auch in Fällen, die beispielsweise juristisch bereits verjährt sind, können Entschädigungen gezahlt werden. „Es ist ein freiwilliges Verfahren, das die Möglichkeit, Rechtsansprüche geltend zu machen, nicht ausschließt“, sagte Professor Ernst Hauck, ehemals Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht und jetzt stellvertretender Vorsitzender der UKA. „Es ist ein Verfahren, das Betroffenen die Chance bietet, unbürokratisch und ohne größeren ökonomischen Aufwand zu Leistungen zu kommen – und zwar relativ schnell.“ Zudem sei das Verfahren nicht öffentlich – ohne die Belastungen, die damit oft verbunden seien, wenn Betroffene im Blickpunkt der Öffentlichkeit stünden. „Aus unserer Sicht ist es ein gangbarer Weg, der sich neben den Rechtsweg stellt.“
Blickt man im Detail auf die Zahlen, so lassen diese einige Rückschlüsse im Hinblick auf das Ausmaß des Missbrauchsskandals zu. So beziehen sich die meisten Anträge – aktuell 388 von insgesamt 2.112 – auf Fälle in Ordenseinrichtungen oder sonstigen Trägern. Blickt man auf die einzelnen Diözesen, stammen die meisten Anträge (239) aus dem Bistum Münster. Erst weit dahinter folgen mit 147 Anträgen das Erzbistum Köln und mit 140 Fällen die Erzdiözese Freiburg. Über 100 Anträge gab es bisher auch aus Essen (126), Trier (110) und Aachen (103). Bei sexuellem Missbrauch im Umfeld von Ordensgemeinschaften beziehen sich die Anträge vor allem auf Einrichtungen der Salesianer Don Boscos (67), der Jesuiten (33) oder der Provinz St. Clemens der Redemptoristen (26). Interessant ist auch ein Blick auf die Geschlechterverteilung. Von den 1.809 Antragstellern, deren Fälle bereits entschieden wurden, waren gut drei Viertel Männer. Allerdings waren die Frauen offensichtlich viel stärker von schweren Fällen des Missbrauchs betroffen. Vergleicht man das Geschlecht mit der Höhe der zuerkannten Entschädigungszahlung, so wird deutlich, dass bei den Zahlungen über 75.000 Euro der Frauenanteil bei 63 Prozent liegt, bei Entschädigungen über 100.000 Euro sogar bei über 80 Prozent. In den Kategorien darunter überwiegt jeweils der Männeranteil.
Schwerpunkt der Fälle in den 60ern und 70ern
Auffällig ist auch, dass der Schwerpunkt der gemeldeten Fälle eindeutig auf den 1960er und 70er Jahren liegt. Danach gehen die Fallzahlen kontinuierlich zurück. Im Hinblick auf die Tatzeiträume überwiegen Fälle, in denen sich der Missbrauch in einem Zeitraum zwischen einem und vier Jahren ereignet hat. Mehr als 40 Prozent der Anträge beziehen sich zudem auf Missbrauch in Heimen. Betroffene mit Heimkontext berichten zudem den Angaben zufolge häufiger über längerfristigen Missbrauch. Etwa bei Tatzeiträumen von acht Jahren und mehr ist der Anteil der Betroffenen mit Heimkontext jeweils höher als die Fälle außerhalb von Kinderheimen. Blickt man auf das Alter der Betroffenen, so fällt auf, dass vor allem jüngere Kinder bis zu einem Alter von sechs Jahren überdurchschnittlich oft in Heimkontexten sexuell missbraucht worden sind. Insgesamt lässt sich feststellen: Je länger der Tatbeginn zurückliegt, desto jünger waren die Kinder. Bis etwa Mitte der 1970er Jahre waren Jugendliche beim Beginn des Missbrauchs zwischen neun und zehn Jahre alt, bei späteren Fällen stieg das Durchschnittsalter teils auf über zwölf Jahre an.
„Die Mitglieder der UKA lassen in ihrem Bemühen nicht nach, weiterhin zu versuchen, durch ihre Arbeit das große Leid, das den von sexuellem Missbrauch Betroffenen aus der katholischen Kirche heraus zugefügt wurde, zu lindern“, machte die Vorsitzende Reske deutlich. Dennoch mussten sich die Kommissionsmitglieder auch kritische Fragen bezüglich der Höhe der Zahlungen gefallen lassen – beispielsweise würden in Irland deutlich höhere Summen an Missbrauchsopfer gezahlt, so ein Vorwurf. „Man kann immer sagen, für die Betroffenen wäre mehr schöner“, meinte der stellvertretende Vorsitzende Hauck. Die Entschädigung richte sich jedoch nicht nach der Zahlungsfähigkeit der betroffenen Institutionen, machte der frühere Bundessozialrichter deutlich. Durch die Verfahrensordnung sei sichergestellt, dass die den Opfern zuerkannten Summen auch tatsächlich in voller Höhe gezahlt würden. Vergleichsmaßstab sei für die Kommission allein „der obere Rand der Schmerzensgeld-Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland.“
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