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„Unterscheidung der Geister“auf dem Weg der Berufung

Wer bin ich? Und was will Gott von mir? Kriterien zur Unterscheidung der Geister.
Jede christliche Unterscheidung ist ein Weg
Foto: adobe stock | Bei der Unterscheidung der Geister gibt es keine absolute Sicherheit, ob man richtig liegt. Vielmehr ist jede christliche Unterscheidung ein Weg.

Wer als mündiger Christ leben möchte und sein Leben nicht nur in groben und großen Dingen, sondern Tag für Tag nach dem Evangelium gestalten will, für den wird die Frage, wie und woran er das Richtige, das Gottgemäße im eigenen Leben erkennen kann, zur brennenden Frage. In den folgenden Überlegungen soll das ignatianische Konzept einer geistlichen Pädagogik vor allem daraufhin befragt werden, was es dem Menschen von heute als Unterscheidungs- und Entscheidungshilfen gibt, um den Willen Gottes im Alltag zu erkennen und gemäß der eigenen Berufung zu befolgen.

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I. Auf der Suche nach dem Willen Gottes

Damit die Wahl in einer guten und verantwortbaren Weise vollzogen wird, bedarf es der „Unterscheidung der Geister“, die die verschiedenen Regungen und Bewegungen scheidet und auseinanderhält. Im 1. Korintherbrief zählt Paulus die „Unterscheidung der Geister“ zu den Gnadengaben des Heiligen Geistes (12,10). Um diese Gnadengabe der Unterscheidung hat sich jeder Christ zu bemühen, wie es im 1. Johannesbrief heißt: „Glaubt nicht jedem Geist, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind“ (4,1). Als ein Geliebter Gottes hat der Christ alles zu prüfen, um das Gute zu behalten (1 Thess 5,21).

Das Finden des Willens Gottes ist aufs Engste mit dem Sich-Einlassen auf die eigene Lebenslinie verbunden und setzt Teil- und Vorfragen voraus: Wer bin ich? Wo liegen meine Fähigkeiten und Stärken, meine Grenzen und Schwierigkeiten? Welche Aufgaben und Verpflichtungen habe ich? Nur wer sich hier genau kennt und weiß, was er will, wird wissen, was Gott von ihm will.

1. Unterscheidung und Entscheidung

Die „Unterscheidung der Geister“ ist eine besondere Gabe des Geistes, ein Charisma, das den Glaubenden befähigt, zu prüfen und zu unterscheiden, was von Gott stammt und zu ihm hinführt und was nicht. Um diese Einsicht und dieses Feingefühl zu bekommen, bedarf es des Hörens auf das Wort Gottes in der Heiligen Schrift, in ihr lernt der Glaubende, was Paulus seiner Gemeinde zuruft: „Seid so gesinnt wie es dem Leben in Jesus Christus entspricht!“ (Phil 2,5); es bedarf eines „hinhörenden Tuns“, das die Lebensweise des Herrn immer neu betrachtet: „Eure Liebe möge mehr und mehr wachsen an Einsicht und jeglichem Feingefühl, dass ihr unterscheiden könnt, was das jeweils Bessere ist“ (Phil 1,9f).

2. Ein Grundkriterium der Unterscheidung

Der Weg der Nachfolge steht im Zeichen der Frohbotschaft, nicht einer Drohbotschaft. Deshalb gelten Friede und Freude als Grundkriterium für den Weg der Unterscheidung der Geister: Jeder Ruf Gottes führt zu mehr Frieden und zu einer wahren inneren Freude. Gott hat sich als der „Vater“ offenbart, nicht als der Rivale der Menschen; sein Ruf wird somit daran erkannt, dass der Mensch mehr er selbst wird und zu Identität und Authentizität findet. Friede und Freude in der Nachfolge sind nicht um ihrer selbst willen da. Ist der Wille Gottes erkannt, muss der Glaubende ihn auch erfüllen; eine Unterscheidung, die nicht zur Entscheidung drängt, ist sinnlos: Jede Unterscheidung drängt zu einer Entscheidung. Die Erkenntnis des Willens Gottes setzt jedoch zuvor Entschiedenheit und Entschlossenheit voraus: Nur wer weiß, was er will, weiß auch, was Gott von ihm will (Teresa von Avila).

II. Regeln zur Unterscheidung

Das Anliegen der 18 ignatianischen Unterscheidungsregeln lässt sich übersetzen in Grundregeln, die dem Einzelnen in seinem Alltagsleben, bei seinen Entscheidungen und Fragen der Nachfolge Hilfe und Wegweisung sein können:

1. Kriterium: Tu alles aus Liebe!

Eine erste Unterscheidungshilfe findet sich bei der Kleinen Therese. Nicht durch theoretisches Überlegen und lange Gespräche sucht sie den Willen Gottes, sondern sie liest im „Buch des Lebens“. „Ohne sich zu zeigen, ohne seine Stimme vernehmen zu lassen, führt mich der Herr in das Geheimnis ein... Ich erkenne und weiß es aus Erfahrung, dass das Reich Gottes in unserem Innern ist. Der Herr bedarf weder der Bücher noch der Lehrer, um unsere Seele zu unterweisen.“ Die Unterweisung, welche die Kleine Therese empfängt, kommt aus der Liebe: „Mein Seelenführer, Jesus, lehrt mich nicht, meine Akte zu zählen; er lehrt mich, alles aus Liebe zu tun, ihm nichts zu verweigern, zufrieden zu sein, wenn er mir eine Gelegenheit gibt, ihm meine Liebe zu beweisen; und all das im Frieden, in der Hingabe.“

2. Kriterium: Lerne dich und dein Leben gut kennen!

Der von Therese bezeugte Friede erwächst aus der Erfahrung des Trostes, die mit jeder Erkenntnis des Willens Gottes gegeben ist. Der Ruf in die Nachfolge steht ja im Zeichen der Frohbotschaft, nicht einer Drohbotschaft: Gott hat sich den Menschen als ihr Vater und nicht als ihr Rivale offenbart. Deshalb führt jede Erkenntnis des Willens Gottes in den Trost, also dazu, dass der Mensch mehr er selbst wird und schließlich zu Identität und Authentizität findet.

Bei Gott ist zwar kein Ding unmöglich, aber nicht jeder kann ohne weiteres alles werden. Das Finden des Willens Gottes ist aufs Engste verbunden mit dem Sich-Einlassen auf die eigene Lebenslinie. Der Einzelne muss deshalb genau und gut seine Fähigkeiten, Grenzen und Schwierigkeiten kennen. Dabei gilt die Grundregel: Jeder soll das tun und wählen, bei dem er dauerhaft und wahrhaft tiefgreifend Freude und Frieden empfindet und wo sich die „Früchte des Geistes“ mehren.

3. Kriterium: Ordne dein Leben!

Die Offenheit für den Willen Gottes konkretisiert sich in dem Wunsch, eine Lebensentscheidung zu treffen, in der Gott unbedingt vorkommt. Deshalb muss der Glaubende „sein Leben ordnen“ (Ignatius von Loyola), alle falschen Anhänglichkeiten ablegen und sich in Freiheit und Offenheit Gott zur Verfügung stellen. So wird der Glaubende bereit für die Suche nach einer konkreten Lebensgestalt, wie sie jeder Nachfolge zu eigen ist, „denn je persönlicher eine Liebe ist, je mehr sie die eigene Person in diese Liebe einsetzt und hingibt, umso individueller, einmaliger, unvertretbarer wird diese Liebe“ (K. Rahner).

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4. Kriterium: Bleib im Kleinen treu!

Die in der Nachfolge geschenkte Freiheit muss in der konkreten Praxis des Alltags verwirklicht werden, indem all das, was vom Willen Gottes schon erkannt wurde, in die Tat umgesetzt wird, im unablässigen Dialog mit Gott und in ständiger Korrektur („Umkehr“): Herr, was willst du, dass ich tue? Die Annahme des Willens Gottes konkretisiert sich nicht so sehr in kühnen und großen Aktionen, sondern eher in den verschlungenen Linien der kleinen alltäglichen Akte der Treue zu den Mitmenschen und zur Umwelt.

Auch wenn das Evangelium zu großen Entschlüssen und Unternehmungen aufruft, nimmt es den Glaubenden in die alltägliche Pflicht. Schon das Reichen eines Bechers mit Wasser (Mt 10,42) ist Christusdienst. Wer im Kleinen treu bleibt (Lk 16,10), wird nicht weit vom Himmelreich sein.

5. Kriterium: Bleib konsequent auf dem erkannten Weg!

Der Vorgang der Unterscheidung und die Anwendung der Unterscheidungsregeln bei diesem Fragen und Suchen nach dem Willen Gottes geben keine absolute, mathematische Sicherheit, sodass man wüsste, sich nicht getäuscht zu haben. Vielmehr ist jede christliche Unterscheidung ein Weg, der Weg einer nie ruhenden „Krisis“. Entschiedenheit und Offenbleiben gehören im christlichen Alltag zusammen.

6. Kriterium: Konkretisiere deine Entscheidung im Apostolat!

Gewiss, der Einzelne darf sich bei der Suche nach seiner Berufung auf die Regungen von Freude und Frieden verlassen, doch heißt dies nicht, dass er einfach dem Lustprinzip folgen darf. Er muss schauen, welche Gefühle, welche Gemütsbewegungen aufbauend und welche zerstörerisch sind, indem die ersten angenommen und die zweiten verworfen werden. Aufbauend oder zerstörerisch wofür? Für ein Leben nach dem Evangelium! Die Unterscheidung wird also im Blick auf das Evangelium und in Bezug auf die konkrete Kirche vollzogen. Es geht demnach um eine apostolische Wahl, welche die Argumente des Glaubens bedenkt und mit den geistlichen Aktivitäten wie Gebet und geistliche Übungen verbunden ist.

7. Kriterium: Suche in allem die Treue zum Herrn!

Verwirkliche das, was du vom Evangelium begriffen hast – sei es auch noch so wenig; das aber tue ganz (Roger Schutz). Was keinerlei Anhaltspunkte in der Heiligen Schrift hat und nicht mit dem Verhalten Jesu übereinstimmt, ist sicherlich nicht Stimme Gottes. Charles de Foucauld drückt diese Regel so aus: „Die einzige Regel, auf die es ankommt, ist: Frage dich in allen Dingen, was hätte unser Herr getan, und handle so. Dies ist deine einzige Regel, aber es ist eine unbedingte Regel.“

Natürlich ist es nicht leicht, in allen Dingen zu wissen, was und wie Jesus gehandelt hätte, aber bestimmte Verhaltensweisen kommen für ihn nicht in Frage. Überall wo die Stimme eine bestimmte Verhaltensweise Jesu in das Hier und Heute des eigenen Lebens übersetzt, dürfte es sich um eine Stimme Gottes handeln.

8. Kriterium: Geh nicht zu ungestüm voran!

Es kann sein, dass Gottes Wille vom Einzelnen erkannt ist, doch ist er angesichts der Forderung des Herrn zutiefst beunruhigt und stellt bei sich fest: „Ich müsste dies oder jenes eigentlich tun, aber ich kann nicht!“ Dies muss keine gute, vertrauenswürdige Regung sein, denn sie birgt die Versuchung in sich, gleich am Anfang des Nachfolgeweges die ganze Radikalität eines Rufes vorzustellen, so dass der Einzelne vorzeitig mutlos wird und schließlich gar nicht nachfolgt. Um dieser Gefahr entgegenzutreten, ist es besser, nicht gleich das Ganze tun zu wollen, sondern einzig das, was augenblicklich schon getan werden kann. Gott lässt einem immer Zeit!

9. Kriterium: Achte auf die Sehnsucht des Herzens!

Ist die Sehnsucht nach Gott echt, so wächst sie durch den Aufschub. Nimmt sie durch den Aufschub ab, so war es kein Ruf Gottes. Wenn sich ein bestimmter Wunsch nur für eine kurze Zeit einstellt, bei Nicht-Erfüllung beziehungsweise Aufschub wieder verfliegt, dann war er vermutlich nicht gottgewollt.

10. Kriterium: Mach keine Abstriche!

Zu jeder geistlichen Entscheidung gehört die Bereitschaft, Menschenfurcht zu überwinden. Diese gibt es in vielfältiger Form. Sie reicht von der Angst, nicht genügend beachtet zu werden oder sich zu blamieren, bis hin zu der Furcht, im Karussell menschlicher Sehnsucht nach Karriere und Anerkennung den Kürzeren zu ziehen. Hier findet der Einzelne, wie das Exerzitienbuch des Heiligen Ignatius von Loyola sagt, im Blick auf Jesu Leben und Weg neue Kraft, „die gegen diese Versuchungen des Feindes die starke Stirn zeigt, indem sie das gerade Gegenteil tut“.

11. Kriterium: Suche das Geistliche Gespräch und die Begegnung mit der Kirche!

Zu gerne und zu schnell werden eigene Stimmen, Strebungen und Wünsche mit dem Willen Gottes gleichgesetzt. Man ahnt zwar, dass hier etwas nicht in Ordnung ist, redet aber mit niemandem darüber, lässt lieber alles im Halbdunkel. Deshalb sagt Johannes Cassian: „Um leicht zur wahren Unterscheidung (discretio) zu kommen, muss man auf den Spuren der Alten gehen, das heißt, sich nach einem Führer richten.“

Michael Schneider SJ
Foto: Felix Schmitt | Pater Dr. Michael Schneider SJ ist emeritierter Professor der Dogmatik und Liturgiewissenschaft. Im Priesterseminar Willibaldinum in Eichstätt ist er als Spiritual tätig.

Im Jahr 1552 wurde Franz Borja vom Kaiser dem Papst als Kardinal vorgeschlagen, doch Ignatius von Loyola war nicht damit einverstanden: „Es kann wohl sein, dass der gleiche Geist Gottes mich aus gewissen Gründen zu dem einen drängt und andere zum Gegenteil; und so könnte doch noch der Vorschlag des Kaisers durchdringen.“ Solange keine definitive Gehorsamstat eingefordert war, glaubte Ignatius, anderer Meinung sein zu müssen und dem Papst gegenübertreten zu dürfen, weil nur so deutlich werden konnte, was Gott in dieser Stunde wirklich aufträgt; schließlich hat der Papst Franz Borja nicht ernannt... Ignatius und der Papst, beide glaubten, in der Kraft des Geistes zu handeln; und beide mussten sich einander widersetzen, damit der Wille Gottes deutlich erkannt werden konnte. Was mit diesem Lebensbeispiel beschrieben wird, führte im Lauf der Kirchengeschichte auch zu Widerspruch und Leiden. Obwohl schon am Anfang der jungen Kirche darauf hingewiesen wurde, dass dem Geist, dessen Herkunft noch nicht klar durchschaut ist, in Toleranz begegnet werden müsse (Apg 5,38 f), kam es in der Begegnung mit geisterfüllten Menschen immer wieder zu Konflikt, Hass, Neid, Eifersucht, Verfolgung und Leiden.

Johannes vom Kreuz wird von seinen eigenen Mitbrüdern in einen Kerker geworfen, wo er Licht und Nahrung entbehren musste; Jeanne d'Arc stirbt auf dem Scheiterhaufen; John Henry Newman lebt über Jahre „unter der Wolke“; Bischof Sailer wird von einem anderen Heiligen in Rom angeschwärzt. Oft musste die charismatische Sendung auch gegen die Gleichgültigkeit und das Zögern kirchenamtlicher Stellen durchgehalten werden. Es kann wiederum ein Charisma sein, zu unterscheiden, wo das Leid des Widerspruchs gegen die eigene Sendung das Kreuz ist, mit dem eine echte Sendung gesegnet ist, oder wo es ein Beweis dafür ist, dass eine Bestrebung nicht von Gott kommt. Die Lebensregungen der Kirche lassen sich nämlich nicht alle schon absolut in rechtlich eindeutige Regeln einfangen; es bleibt ein charismatischer Rest: das Wirken des Hl. Geistes, der „weht, wo er will“ (Joh 3,8).

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