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Der Synodale Weg begibt sich auf den abschüssigen Pfad des Subjektivismus und Relativismus

Karl-Heinz Menke widmet sich in der aktuellen Beilage welt&kirche dem Zusammenhang von Wahrheit und Gewissen.
Missbrauch der Gewissensfreiheit
Foto: via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Der Synodale Weg inszeniert Kollektivbekenntnisse. Die Schuldigen sprechen gerne von der „Sünde des Systems“ oder von der „Sünde des Klerikalismus“, statt endlich „mea culpa“ zu sagen.
  • Was ist eine Gewissensentscheidung?
  • Ist das Gewissen autonom oder auf die Wahrheit ausgerichtet?
  • Von welchem Gewissensbegriff sind die Diskussionen des Synodalen Wegs angeleitet?

In der 1950 verfassten Erzählung „Die Cocktailparty“ schildert T. S. Eliot eine junge Frau mit dem Namen Celia Coplestone, die, wie er eingangs bemerkt, in einem reichen Elternhaus ohne Religion aufgewachsen aus der Bahn gerät. Nach kurzer, aber heftiger  Affäre mit einem verheirateten Mann wendet sie sich an einen Psychotherapeuten. „Was“, so fragt der, „soll denn  an Ihrer Affäre nicht in Ordnung sein?“ Celia antwortet verlegen: „Lachen Sie mich bitte nicht aus. Denn  nach Lachen ist mir nicht zumute. Wenn nur mit mir selbst etwas nicht in Ordnung wäre; gäbe es sicher die eine oder andere Kur oder Tablette. Aber – ich kann es nicht anders sagen – es ist gar nichts mehr in Ordnung. Es mag Ihnen lächerlich vorkommen; aber der einzige Ausdruck dafür, den ich finden kann, ist ein ,Gefühl der Sünde‘.“ Der Therapeut fragt amüsiert: „Sie leiden unter dem Gefühl der Sünde, Miss Coplestone?“ Und sie antwortet: „Ja. Und glauben Sie mir, mein Gefühl hat nichts mit meiner Erziehung oder meiner Kindheit oder mit weiblicher Hysterie zu tun. Denn das, was ich meine, ist wirklicher als alles, was man gemeinhin wirklich nennt.“ Darauf der Therapeut: „Was kann denn wirklicher sein als das, was Sie oder ich für wirklich halten?“ Und Celia Coplestone antwortet: „Ich bin nicht mehr das, was ich sein sollte.“ „Und“, fragt der Therapeut, „wer sagt denn, was Sie sein sollen?“ Celia will ausweichen; aber dann spricht sie es doch aus: das Wort „Gott“.

"Wenn ein Wissenschaftler überzeugt davon ist,
dass es auch in weiteren Galaxien intelligente Lebewesen gibt,
und wenn ein anderer Wissenschaftler von dem Gegenteil überzeugt ist,
mag es zwar sein, dass keiner der beiden die eigene Überzeugung  als wahr ausweisen kann.
Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass nur einer von  beiden recht hat."


Das Gewissen ist wie eine Antenne, die auf die Wahrheit ausgerichtet ist. Gemeint ist nicht eine unter vielen Wahrheiten, sondern die uns vom Schöpfer vorgegebene. Menschen, die von der einen Wahrheit sprechen, werden nicht selten als intolerant bezeichnet, weil sie gegenteilige Überzeugungen für falsch halten. Doch: Wer von etwas überzeugt ist, kann nicht ebenfalls das Gegenteil für wahr halten. Wenn ein Wissenschaftler überzeugt davon ist, dass es auch in weiteren Galaxien intelligente Lebewesen gibt, und wenn ein anderer Wissenschaftler von dem Gegenteil überzeugt ist, mag es zwar sein, dass keiner der beiden die eigene Überzeugung  als wahr ausweisen kann. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass nur einer von  beiden recht hat.

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Die Wahrheit ist vom Streit der Interpretationen unabhängig. Die Wahrheit ist etwas dem Erkenntnis- und Handlungssubjekt Vorgegebenes. Sie wird vom erkennenden und handelnden Menschen nicht erst gesetzt oder konstruiert. Nur deshalb kann man auch von einem irrenden Gewissen oder einer falschen Gewissensentscheidung sprechen. Denn wenn jede Handlung jedes Menschen, der seinem Gewissen gehorcht, richtig wäre, dann gäbe es die Unterscheidung zwischen richtiger und falscher Gewissensentscheidung  gar nicht; dann wäre jede Gewissensentscheidung, weil gewissenhaft zustande gekommen, richtig. Dass dem nicht so ist, hat der hl. John Henry Newman im Rückblick auf die Genese seiner Entscheidung zur Konversion leidvoll erfahren. Er war über Jahre überzeugt von der Richtigkeit seiner Gewissensentscheidung, in der anglikanischen Kirche bleiben zu müssen, bis er nach langem Ringen wusste, dass er nur durch den radikalen Schritt der Konversion seinem Gewissen treu bleiben konnte. Die Wahrheit ist nicht das Ergebnis von Gewissensentscheidungen, sondern sie liegt diesen immer schon voraus. 

"Die Freiheit des Gewissens ist keine bloße Wahlfreiheit.
Im Gegenteil: Das Gewissen ist die Fähigkeit des Menschen,
sich an den Ursprung der eigenen Freiheit binden zu können."

Jeder kann sein Gewissen auf den Logos Gottes (die Wahrheit)  ausrichten oder auch das Gegenteil praktizieren. Allerdings besteht die Freiheit des Gewissens nicht in der Möglichkeit, zwischen diesen beiden Optionen zu wählen. Die Freiheit des Gewissens ist keine bloße Wahlfreiheit. Im Gegenteil: Das Gewissen ist die Fähigkeit des Menschen, sich an den Ursprung der eigenen Freiheit binden zu können. Je fester ein Mensch sich an den Logos Gottes bindet, desto freier ist er. Und umgekehrt: Der junge Mann, dem Jesus zutraut, seinem Ruf in die besondere Nachfolge zu folgen (Lk 18,18–23), bindet sich nicht an die Wahrheit, sondern an sein Geld. Und das macht unfrei; andernfalls hätte Lukas uns nicht gesagt, dass der reiche Jüngling traurig wegging. Das Neinsagen zur Wahrheit ist nicht Realisierung von Freiheit, sondern der Anfang aller Unfreiheit. Die von Eliot geschilderte Miss Coplestone hat – obwohl religiös unmusikalisch – ein  wach gebliebenes Gewissen. Sie kann ihr Gewissen nicht zum Schweigen bringen. Sie weiß, dass die Wahrheit wirklicher ist als alles, was man gemeinhin wirklich nennt. Und sie erfährt, dass das Neinsagen zur Wahrheit (die Sünde) unfrei macht.  

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Das Gewissen ist nicht Ursprung der Wahrheit

Das Gewissen ist der Ort, in dem jeder Mensch aufgefordert ist zum Erkennen der Wahrheit und zum Befolgen des Guten. Aber das Gewissen ist nicht Ursprung der Wahrheit, die es erkennt; und nicht Ursprung des Guten, das es befolgt. Richtig verstandene Autonomie bedeutet, dass der Mensch sich selbst dazu bestimmt, sich von der Wahrheit bestimmen zu lassen. Von einer Ordnung, die der Mensch selber schafft, kann er sich auch selbst dispensieren; nicht aber von der Ordnung, die Gott gesetzt hat.  Menschenwürde, die an den Konsens von Politik und Gesellschaft gebunden ist, ist eine nur bedingte. Unbedingt verwerflich sind Kindesmissbrauch, Mord, Folter oder auch Ehebruch nur dann, wenn die Würde jedes einzelnen Menschen jeder Interpretation und Bedingung entzogen wird. Wenn Gott nicht existiert, gibt es nichts Unbedingtes.  

Jeder Mensch ist – unabhängig von seiner Sozialisation und Religion – immer schon hingeordnet auf dieselbe Wahrheit. Es gibt zwar ein spezifisch christliches Ethos, nicht aber eine spezifisch christliche Ethik. Celia Coplestone weiß unabhängig von kirchlichen Weisungen, dass Ehebruch nicht in Ordnung ist. Als Katholikin würde sie darüber hinaus wissen, dass der eheliche Bund zwischen einem getauften Mann und einer getauften Frau die unbedingte Treue Jesu Christi zu seiner Braut, der Kirche, darstellt. Als Christin würde sie glauben, dass es einen bestimmten Menschen gegeben hat, der die vollkommene Offenbarkeit von Gottes Wahrheit (Ordnung) war; und dass es eine Gemeinschaft gibt, die täglich mit ihm kommuniziert.   

Christusbekenntnis und Christopraxis gehören zusammen

Ohne Bindung an diese Gemeinschaft kann man nicht Christ sein. Die vertikale Inkarnation des göttlichen Logos bedingt die horizontale Inkarnation des Christentums. Einheit in Christus ist nichts bloß Privates, sondern Eingestaltung in das Christusbekenntnis und in die Christopraxis der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche.

Wenn das ÖAK-Papier „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ die gemeinsame Taufe zur hinreichenden Basis für praktizierte Abendmahlsgemeinschaft (Interkommunion) erklärt, blendet es den mit der Taufe verbundenen Auftrag aus. Jede Christin, jeder Christ ist durch die Taufe gerufen, die ihm geschenkte Einheit aller Getauften in Christus zu verleiblichen. Verleiblichte Einheit ist sichtbare Einheit. Die konfessionellen Spaltungen der Christenheit sind nicht Ausweise bereichernder Pluralität, sondern Konsequenzen des Abfalls von der Taufe. Es ist mit den Getauften wie mit den Mitgliedern einer Familie: Sie verlieren ihren Namen „Christen“ nicht, wenn sie ihr Christentum subjektivieren, privatisieren und funktionalisieren. Aber sie verraten damit ihren durch die Taufe übertragenen Auftrag. Die Mitglieder einer zerstrittenen Familie können nicht zusammen essen, bevor sie sich versöhnt haben. So ähnlich ist es auch mit der Interkommunion. Sie kann die Bekenntnisverschiedenheit nicht beheben. Es ist nicht die Eucharistiefeier; sondern es ist die Taufe, die die Zugehörigkeit zum Leib Christi herstellt. Wo der durch die Taufe hergestellte Leib durch Spaltungen und Streitigkeiten zerrissen wurde, hilft nicht das Gemeinsam-miteinander-Essen, sondern nur das, was Martin Luther die „Rückkehr zur Taufe“ genannt hat. Gemeint ist die Ausrichtung des Gewissens an der in Christus Fleisch gewordenen Wahrheit. Wer diese Wahrheit jenseits des menschlichen Verstehens ansiedelt, verteidigt den von Kant ausgehobenen Graben zwischen der „Wahrheit an sich“ und der „Wahrheit für mich“. Unter dieser Voraussetzung ist das Gewissen identisch mit der Subjektivität des Subjekts und jedes Dogma, jede Norm eine vorläufige Vereinbarung. 

"Es ist nicht die Eucharistiefeier; sondern es ist die Taufe, die die Zugehörigkeit zum Leib Christi herstellt.
Wo der durch die Taufe hergestellte Leib durch Spaltungen und Streitigkeiten zerrissen wurde,
hilft nicht das Gemeinsam-miteinander-Essen, ... ."

Es ist bemerkenswert, dass der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz die römische Kritik an dem ÖAK-Papier „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ ignoriert und die Praxis der Interkommunion der Gewissensentscheidung des je Einzelnen überlassen will.  Jeder darf selbst entscheiden, was die Bekenntnisgemeinschaft mit dem im „Hochgebet“ genannten Ortsbischof und Petrusnachfolger voraussetzt. So aber wird das inkarnatorische Grundprinzip des Christentums in sein Gegenteil verkehrt. Man muss kein Prophet sein, um dieser Art von Ökumene dasselbe Schicksal wie jeder Art von Gnosis vorauszusagen. 
Niemand bestreitet, dass die Gewissensentscheidung des je Einzelnen zu respektieren ist. Denn Wahrheit darf Zustimmung nicht erzwingen. Sie kann nur in Freiheit erkannt und anerkannt werden. Aber die so beschworene Freiheit des je Einzelnen gegenüber der Wahrheit ist nicht dasselbe wie die Relativierung der Wahrheit. Wenn bestimmte Dogmen und Normen von vielen Christen nicht mehr eingesehen oder befolgt werden, muss man sich um die bessere Begründung der Wahrheit und um neue Wege ihrer Vermittlung (der Neuevangelisierung) bemühen. Die Lösung des Konfliktes zwischen Bekenntnis und Lebenswirklichkeit kann jedenfalls nicht darin bestehen, dass man „verbaliter“ an der Wahrheit festhält, sie aber in der Praxis durch Subjektivierung und Relativierung unterläuft. Die Folgen einer solchen Strategie für die Autorität des kirchlichen Lehramtes sind desaströs. Ein Bischof, der immer dann, wenn Dogma oder Norm der Kirche nicht mehr „plausiblisiert“ werden können, auf das Gewissen des je Einzelnen verweist, verwechselt das Gewissen mit der Subjektivität des Menschen und entledigt  sich  damit seiner vornehmsten Aufgabe: die Wahrheit, die Christus ist, unverkürzt zu verkünden.    

Das Gewissen auf die Liebe Christi ausrichten

Was sich diesbezüglich in puncto „Sexualmoral“ anbahnt, hat Bernhard Meuser in seiner brillanten Analyse mit dem Titel „Freie Liebe. Über die neue Sexualmoral“ auf den Punkt gebracht. Ein Mensch, der sich durch Taufe und Eucharistie Christus eingestaltet weiß, verrät die ihm ermöglichte Liebe, wenn er sie fragmentiert. Mit dem Begriff „Fragmentierung“ meint Meuser die Isolierung oder Separierung einzelner der vier Funktionen der Sexualität: Lustfunktion, Beziehungsfunktion, Identitätsfunktion und Fortpflanzungsfunktion. Eberhard Schockenhoff – und mit ihm eine ganze Reihe deutscher Bischöfe – plädiert für eine „neue Sexualmoral“, die nach außen (verbaliter) an dem Ideal der Integration aller Dimensionen festhält, zugleich aber sexuelle Handlungen bejaht, die einzelne Werte verselbstständigen. Das ist kein Vorschlag zur Vermittlung von Wahrheit und Lebenswirklichkeit, sondern die Individualisierung der Norm durch das „Einzelgewissen“. Es gibt zwar kaum einen Menschen, der das Ideal vollkommen realisiert. Aber deshalb darf die Kirche nicht aufhören, das Einzelgewissen auf die Normativität der in Christus offenbaren Liebe auszurichten. 

Der Synodale Weg leidet unter einem weithin verdrängten Widerspruch. Wo es um die persönliche Verantwortung derer geht, die enttarnte Missbrauchstäter gedeckt und sie von X nach Y versetzt haben, inszeniert man Kollektivbekenntnisse. Die Schuldigen sprechen gerne von der „Sünde des Systems“ oder von der „Sünde des Klerikalismus“, statt endlich „,mea culpa“ zu sagen. 

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Wo es hingegen  um die Vermittlung der Wahrheit an eine weithin glaubenslos gewordene Gesellschaft geht, erklären sich dieselben Entscheidungsträger der Kirche zu Anwälten des „Einzelgewissens“. „Hirten“, die ihre persönliche Verantwortung hinter dem „System“ verstecken, lassen ihre „Schafe“ selbst entscheiden, was wahr sein soll. Doch diese Strategie wird nichts nützen. Solange die Entscheidungsträger der Kirche, die in puncto Missbrauch persönliche Schuld auf sich geladen haben, das System statt sich selbst anklagen, steht der Synodale Weg unter dem Verdacht, ein Ablenkungsmanöver zu sein.

Karl-Heinz Menke ist emeritierter Ordinarius für Dogmatik und theologische Propädeutik an der Universität Bonn
Er ist Mitglied der Internationalen Theologenkommission. 

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