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Das unentdeckte Potential

Die Neuevangelisierung ist beim Synodalen Weg so gut wie abwesend. Die neuen geistlichen Gemeinschaften könnten jedoch zu einem echten Wandel in der Kirche beitragen.
50 Jahre Neokatechumenat in Rom
Foto: Stefano dal Pozzolo (KNA) | Der Neokatechumenale Weg feierte 2018 in Rom sein 50jähriges bestehen.

Wer über die Suchfunktion auf der Internetseite des Synodalen Weges nach Einträgen mit „Evangelisierung“ sucht, wird von deren Menge nicht gerade überwältigt. Einer davon ist in den FAQs platziert, wo er seine Feigenblattexistenz treiben darf: „Die Evangelisierung ist das übergeordnete Ziel des Synodalen Weges. Sie kommt in der Frage nach der Relevanz von Glaube und Kirche in der heutigen Zeit zum Ausdruck. Allerdings muss der Synodale Weg nach Antworten auf drängende Fragen suchen, um die Glaubens- und Missbrauchskrise überwinden zu können“ (www.synodalerweg.de). Das kleine „allerdings“ verrät, dass „die drängenden Fragen“ woanders angesiedelt werden.

Dabei hat Papst Franziskus mit seinem Brief an die Kirche in Deutschland (29.06.2019) die Weichen gestellt: Vom „Primat der Evangelisierung“ war die Rede. Die Diözesanbischöfe von Köln und Regensburghaben diese Schwerpunktsetzung thematisiert und mit ihrem Alternativentwurf zur synodalen Satzung umzusetzen versucht. Vergeblich. Man könnte fragen: noch eine vertane Chance, etwas wirklich zu ändern?
Das Thema „(Neu)evangelisierung“ wurde besonders durch Johannes Paul II. profiliert. Wie Benedikt XVI. im Motu proprio Ubiqum et semper auf der Linie seines Vorgängers 2016 feststellte, handelt es sich um eine Umkehrbewegung in den einst christlich geprägten Ländern: „Es ist die Aufgabe, um die sich die Kirche sorgt, besonders in den Regionen in früher Zeit erfolgter Christianisierung. Eine Aufgabe […], die vor allem eine ständige Erneuerung im Inneren voraussetzt“. Eine Herausforderung, die man neutralisieren kann: entweder verschweigen oder wie eine Etikette auf alles, was man sowieso tut, aufkleben, um der Kritik zu entgehen. 

"Providentieller Ausdruck eines neuen Pfingsten"

Es gibt jedoch eine Alternative: die Neuevangelisierung verinnerlichen und den mühsamen Weg über die Veränderung menschlicher Herzen einschlagen. Dies ist genau der Ansatz der sog. Bewegungen bzw. der neuen geistlichen Gemeinschaften, die in der Regel im Umfeld des II. Vatikanum als Erneuerungsimpulse entstanden sind. Kurzum: Gemeint sind viele Tausende Katholiken weltweit, die im Schoß der Kirche etwas Alt-Neues entdeckt haben, und, dieser Entdeckung folgend, ihren Glauben besonders intensiv leben. Johannes Paul II. hat 1998 bei einem Pfingsttreffen solchen Gruppen eine entscheidende Rolle zuerkannt als „providentieller Ausdruck des neuen Frühlings, den der Heilige Geist mit dem […] Konzil hervorgebracht hat“. Das jüngste kirchliche Dokument über diese Gemeinschaften, Iuvenescit ecclesia (IE, 2016), definiert sie als „charismatische Gaben“, die sich dadurch aus-zeichnen, dass „sie als stark dynamische Gruppierungen eine besondere Anziehungskraft für das Evangelium zu wecken vermögen und auf einen tendenziell umfassenden christlichen Lebensentwurf abzielen“ (IE 2). 

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Was wäre also der Beitrag dieser Gemeinschaften für die Neuevangelisierung? Oder woher kommt deren Fähigkeit, „besondere Anziehungskraft für das Evangelium“ zu wecken? Meines Erachtens liegt ihre Bedeutung insgesamt darin, dass sie einen echten Unterschied ausmachen und eine wahre „Kirchenreform“ darstellen. Dagegen bleibt der Synodale Weg systemkonform. Eine echte Änderung ist nicht in Sicht. De facto können keine „ergebnisoffenen“ Debatten stattfinden, weil man die Ergebnisse schon kennt. Seit Jahrzehnten werden die gleichen Schlagwörter gebetsmühlenartig auf die Agenda gesetzt: Frauenpriestertum, Zölibat, Sexualmoral, Machtbegrenzung. Es ändern sich Gesichter, Strukturen, Namen von Initiativen, aber die Richtung bleibt. Ergebnis? Sich immer mehr leerende Kirchenbänke und abnehmendes Glaubensleben.

Wider Relativismus

Es erinnert mich an das meiner polnischen Heimat aufgezwungene System des Sozialismus. Nach einem geflügelten Wort von Stefan Kisielewski ist „Sozialismus ein System, das heldenhaft Probleme löst, die in keinem anderen System bekannt sind“. Anders gesagt: Er bekämpft am besten die Probleme, die er selbst verursacht hat. Und zwar durch noch mehr Sozialismus… Etwas von der dahinterstehenden Logik erkenne ich in manchen Auseinandersetzungen um die Kirchenreform. Gerade weil Menschen bestimmte Teile der christlichen Lehre nicht mehr nachvollziehen können (die wir ihnen generationenlang vorenthalten haben), gerade weil ihr Leben sich so sehr vom moralischen Anspruch der „Kirche“ unterscheidet (nachdem sich die Gesellschaft von Gott, Naturrecht und christlicher Kulturbegründung entfernt hat), müssen wir intensivieren, was den jetzigen Zustand begünstigt hat, nämlich die Glaubenssubstanz relativieren und die moralischen Konsequenzen des Glaubens nach weltlichen Maßstäben uminterpretieren. 

Man kann natürlich Es lässt sich weiterhin diesem Weg folgen und den Frust vergrößern, der kommt, wenn falls die Universalkirche den Alleingang ihrer deutschen Tochter wieder nicht mitgeht. Aber zu einem echten Neuaufbruch könnte das „Anderssein“ der neuen Gemeinschaften beitragen. Ich nenne drei Hauptmerkmale, die mir als deren Aufgabe für die Neuevangelisierung am wichtigsten erscheinen.
Erstens, das Vertrauen in die Kirche als institutionalisierte Glaubensgemeinschaft vorleben und stärken. Kardinal Marx sagte bei der Herbstvollversammlung der DBK 2018: „Die Menschen glauben uns nicht mehr. Wir müssen handeln und dann hoffen, dass man uns wieder vertraut“. Das berechtigte Anliegen wird in den besagten Gruppen mittels existenzieller Glaubenserfahrungen mit und in der Kirche bereits realisiert. Wo der lebendige Christus in einer konkret erfahrbaren Gemeinschaft durch erneuerte sakramentale Praxis und die Kraft des Gotteswortes verkündigt wird, dort identifizieren sich Menschen mit der Kirchlichkeit ihres Glaubens. Die Nächstenliebe wird auch einfacher, wenn man sich besser kennt. Dies schließt die Fähigkeit mit ein, mit dem menschlich-göttlichen Charakter der Kirche fertig zu werden, bei dem die Möglichkeit des Scheiterns am eigenen Anspruch gegeben ist. Denn dieses Scheitern führt nicht zum Austritt, sondern zu umso größerer Bemühung, der Welt die Liebe zurückzuerstatten, die ihr durch einige Kinder der Kirche vorenthalten wurde. 

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Zweitens, in den Gemeinschaften werden reale Bedingungen für eine Wiederheirat geschaffen. Und zwar von zwei längst voneinander Geschiedenen miteinander: Glaube und Leben. Nicht im Sinne: „Die Lebenswirklichkeit der Menschen ist eine Quelle theologischer Erkenntnis“ (Bischof Bode, 2019). Denn man könnte nachfragen: „von welchem Menschen ist die Rede? Von dem Menschen, der von der Begierde beherrscht wird, oder von dem Menschen, der von Christus erlöst wurde?“ (Veritatis splendor, 103). In den Gemeinschaften wird die Erfahrung gemacht, dass die persönliche Begegnung mit Christus in der Kirche, oft verbunden mit einer echten Umkehr, zu einer qualitativen Änderung im Handeln führt. Wer nicht daran glaubt, dass die „hohe Moral der Kirche“ lebbar ist, sollte sich z. B. Zeugnisse von Ehepaaren anhören, die ihr Leben nach Humanae vitae gestalten und davon bereichert werden. 

Glaubensfreude statt Glaubensmüdigkeit

Drittens, aus der Erfahrung des kirchlich vermittelten neuen Lebens kommt der apostolische Elan. Statt Glaubensmüdigkeit entsteht Glaubensfreude, die man mit anderen teilen möchte. Insofern könnte man Thomas Sternberg entgegnen, der dem Lehramt rät, zu bestimmten Fragen zu schweigen und sie u. a. den Theologen zu überlassen (2019): Es gibt bereits Menschen, die in der Lage sind, die „umstrittene“ Lehre in ihrem Leben zu bezeugen und zu begründen. Und ihr Beitrag besteht auch darin, dem verpönten Wort „Mission“ sein Daseinsrecht zurückzugeben: Nicht als Synonym der Indoktrination, sondern als Sendung aus Liebe zu denen, die Christus nicht kennen. 

Joseph Ratzinger prophezeite in seinem Buch-Interview „Salz der Erde“: „Auch die Kirche […] wird andere Formen annehmen. Sie wird weniger mit Großgesellschaften identisch sein, mehr Minderheitenkirche sein, in kleinen lebendigen Kreisen von wirklich Überzeugten und Glaubenden und daraus Handelnden leben. Aber gerade dadurch wird sie, biblisch gesprochen, wieder zum ,Salz der Erde‘“. Diese Kirche lebt schon – u. a. in den neuen geistlichen Gemeinschaften. 

Pfarrer Andrzej Kucinski, Dr. theol., ist polnischer Priester des Erzbistums Köln und Mitglied des Neokatechumenalen Weges.

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