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„Bei Euch sei es nicht so!“

Macht und Machtmissbrauch in der Kirche: Wo das wahre Korrektiv zu finden ist. Ein Gespräch mit der Theologin Nina Heereman.

Frau Professor Heereman, nach dem Missbrauchsskandal steckt die Kirche in einer tiefen Krise. Deutsche Bischofskonferenz und Zentralkomitee der deutschen Katholiken wollen dem mit dem Synodalen Weg begegnen. Macht und Gewaltenteilung in der Kirche zählt zu den großen Themen des Synodalen Weges. Wo sehen Sie die Ursachen für Machtmissbrauch in der Kirche?

Ihre Frage impliziert einen Zusammenhang zwischen dem Missbrauchsskandal und der dem Klerus vorbehaltenen sogenannten Macht in der Kirche. Diesem Kausalzusammenhang kann ich nicht zustimmen. Zwar ist es richtig, dass die schuldig gewordenen Kleriker ihre, wenn Sie so wollen, „Macht“ auf schändlichste Weise missbraucht haben. Aber dies ist kein Machtmissbrauch, der dem Priestertum inhärent wäre. Die Gefahr des Missbrauchs ist mit jeder Machtstellung gegeben. Das wird schon am Beispiel der Familie deutlich. Die Eltern haben eine naturgegebene „Machtposition“ ihren Kindern gegenüber. Und nicht zufällig finden die allermeisten Fälle von Missbrauch in der Familie statt. 

Wollen Sie deshalb die Familie abschaffen?

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Das Problem ist nicht die „Macht“ der Kleriker, sondern die Frage nach Auswahl und Ausbildung derjenigen Männer, denen diese Leitungsämter anvertraut werden. 

Anders als in der Familie wird die Macht des Klerus göttlich legitimiert. Das macht einen gewaltigen Unterschied. 

In der Tat haben wir es in der Kirche nicht mit einer von Menschen verliehenen oder demokratisch legitimierten Macht zu tun. Vielmehr geht es um eine Bevollmächtigung von Gott her, weshalb sie an das Sakrament der Bischofs-, beziehungsweise Priesterweihe gebunden ist. Als von Gott kommende Vollmacht ist sie in sich gut. Aber, und das sehen wir im Alten wie im Neuen Testament: göttlicher Ursprung von Macht bewahrt nicht vor Missbrauch. Die Antwort auf den Machtmissbrauch von Amtsträgern kann nicht sein, dass wir das Amt oder dessen Strukturen ändern. Das steht uns nicht zu, denn es ist von Jesus gestiftet. Die Antwort ist so alt und neu wie das Evangelium: Die Amtsträger und mit ihnen das Volk sind zur Umkehr gerufen. 

Wenn die Amtskirche nicht aufgehört hätte,
das Evangelium unverkürzt zu verkünden,
stünden wir heute anders da.

Wo sehen Sie Machtmissbrauch in der Kirche?

Den Missbrauchsskandal haben wir bereits angesprochen. Es gibt aber noch ganz andere Formen von Machtmissbrauch. Solchen Machtmissbrauch sehe ich etwa in der erschreckend großen Anzahl von Klerikern, die in Auflehnung gegen das kirchliche Lehramt sich selbst zum Magisterium erklärt haben. Die Unzahl von Priestern, die alles Mögliche verkündigen, nur nicht das Evangelium Christi und die Lehre der Kirche, empfinde ich tatsächlich als amtsmissbräuchlich. Niemand zwingt sie, der Lehre der Kirche Glauben zu schenken. Aber wenn sie sich von der Kirche die Weihen spenden lassen, dann erwarte ich von ihnen, dass sie die damit verbundene „Macht“, zu heiligen, zu lehren, und zu leiten, in der Treue zur Lehre der Kirche wahrnehmen. Diese „Macht“ heißt in der Kirche übrigens munus, auf Deutsch übersetzt: „Dienst“. 

„Dienst“ bedeutet in der Kirche aber auch, zu leiten und zu regieren. Wer bestimmt, hat Macht. Nehmen wir nur das Bischofsamt. Das ist zweifellos eine Machtposition. 

Der Leitungsdienst (munus regendi) ist der einzige Dienst in der Kirche, in dessen Kontext das Wort Macht angebracht ist. Ja, dem Bischof ist viel Macht gegeben und in geringerem Maße auch dem Priester. Auch hier hat die Unterlassung dieses Dienstes der Kirche mehr Schaden zugefügt, als eine Übertreibung. Um mit dem Konzilstheologen Louis Bouyer zu sprechen: „Dienen“ scheint heute zu bedeuten, dass die mit dem Leitungsamt Betrauten ihre Verantwortung als Leiter und Lehrer nicht mehr ernst nehmen müssen und eher der Herde folgen, anstatt ihr mutig den Weg des Evangeliums zu weisen. Wenn die Amtskirche nicht aufgehört hätte, das Evangelium unverkürzt zu verkünden, stünden wir heute anders da. Auch das Gewährenlassen der Missbrauchstäter war im Grunde Machtmissbrauch in Form von Unterlassung des Leitungsdienstes.

Wie ist Macht in der Kirche zu verstehen und auszuüben? Was sagt die Heilige Schrift dazu?

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Macht in der Kirche ist etwas ganz anderes als Macht in der Welt. Wenn wir in der Kirche von Macht reden, dann geht es um eine Bevollmächtigung von Gott her, die Menschen zu heiligen, das Evangelium Christi authentisch auszulegen und die Gemeinschaft der Getauften im Namen Gottes zu leiten. Wenn wir die Schrift befragen, so ist dort zunächst die Rede davon, dass Jesus die Menschen mit göttlicher Vollmacht lehrte (Mt 7,29; Mk 1,22), dass der Menschensohn auf Erden die Vollmacht hat, Sünden zu vergeben (Mt 9,6), dass er „mit Vollmacht und Kraft“ den unreinen Geistern befahl, so dass sie flohen (Lk 4,36), und dass der Vater ihm Macht über alle Menschen gegeben hat, damit er allen, die der Vater ihm gegeben hat, ewiges Leben schenkt (Joh 17,2). Wir sehen also, dass dort, wo das Neue Testament von Macht spricht, es zunächst um eine Bevollmächtigung des Sohnes vom Vater her geht, die ganz im Dienst der Heilung und der Erlösung der Menschen steht. Diese Vollmacht überträgt Jesus seinen Jüngern. 

Damit ist noch nichts darüber gesagt, wie Gottes Bodenpersonal heute mit dieser Macht umgeht. 

Jesus selbst hat durch sein Wort und Beispiel ultimativ gezeigt, wie der Umgang mit dieser Macht gelebt werden soll. „Ihr wisst“, so sagt er seinen karrieresüchtigen Jüngern, „dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“ (Mk 10, 42–45). Damit ist eigentlich alles gesagt. Priesterleben – Opferleben, sagte man früher und brachte damit eine ganz tiefe Wahrheit zum Ausdruck. Der Priester ist tatsächlich in besonderer Weise gerufen, dem Gekreuzigten Christus gleichgestaltet zu werden, sein Leben im Dienst an der konkreten Gemeinde „zu verlieren“. So zumindest bezeugen es alle vier Evangelien und alle Briefe des Heiligen Paulus. Wichtig ist, sich immer vor Augen zu halten, dass die „Macht“ der Amtsträger rein sakramentalist. Das bedeutet zum einen, dass sie von Jesus verliehen ist, der sie vom Vater empfangen hat und vollmächtig auf seine Jünger überträgt. Zum anderen bedeutet es, dass die Macht genau definiert ist und an Jesus ihr einzig gültiges Maß nimmt. Jedes Machtausübung, die darüber hinausgeht, ist diebische Anmaßung (Joh 10,8), und jede Verweigerung, die in der Weihe empfangene Vollmacht zum Heilen, Lehren und Leiten auszuüben, offenbart, dass der Amtsträger nicht Hirte im Sinne des Evangeliums ist.

Das Amtspriestertum
existiert nur aus einem einzigen Grund:
den Getauften zu dienen.

Führt nicht gerade diese sakramentale Dimension zu einer Überhöhung des Amtes, zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft in der Kirche? Genau das wird ja im Zuge der Diskussionen des Synodalen Weges immer wieder scharf kritisiert. Haben nicht alle Teil am gleichen Sendungsauftrag?

Wir haben alle Anteil an dem gleichen Sendungsauftrag, das Evangelium bis zu den Enden der Erde zu tragen. Aber die konkrete Ausführung dieser Sendung unterscheidet sich je nach Stand in der Kirche. Das Amtspriestertum existiert nur aus einem einzigen Grund: den Getauften zu dienen. Wenn es eine „Zweiklassengesellschaft“ in der Kirche gäbe – die es nicht gibt –, dann wäre der Klerus zu den Sklaven und das nicht zum Dienst geweihte Volk zu den Herren zu rechnen. Deshalb wünscht sich der Heilige Paulus, dass die Korinther zur Herrschaft gelangen mögen (1 Kor 4,8), während er von sich und den Aposteln sagt, dass man sie „als Diener Christi betrachten“ solle (1 Kor 4,1). Es ist Ausdruck seiner tiefsten Überzeugung, wenn er sagt: Ich glaube nämlich, Gott hat uns Apostel auf den letzten Platz gestellt, wie Todgeweihte“ (1 Kor 4,9). 

Im Zuge der Diskussionen um den Synodalen Weg gibt es viele Stimmen, die mit Nachdruck fordern, die Macht des Klerus zu beschneiden. Zu Unrecht?

Die Macht des Klerus ist bereits durch das Evangelium und die Lehre der Kirche beschnitten. Ja, es gibt Kleriker, die diese Grenze nicht beachten, aber dafür werden sie sich vor Gottes Gericht verantworten müssen. Immer schon war es die Aufgabe der Propheten, die Amtsträger zum gehorsamen Dienst am Wort Gottes zurückzurufen, ja sie aufzufordern, sich von neuem unter – und nicht über – das Joch der Torah zu stellen. Dieses prophetische Charisma ist dem ganzen Volk gegeben und gemäß einem Wort der Heiligen Hildegard ganz besonders den Frauen. Wenn wir als Volk Gottes nach dem Vorbild der frühen Christengemeinde zur Lehre der Apostel zurückkehren und festhalten an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten (Apg 2,42), dann wird der Klerus bald folgen. 

Gibt es ein biblisches Modell für Gewaltenteilung in der Kirche?

Gewaltenteilung, wie wir sie in der modernen Demokratie kennen, ist biblisch nicht vorgesehen. Das liegt unter anderem auch daran, dass die Kirche keine Demokratie ist. Die Kirche ist kein Staat und nicht einmal Volk im alttestamentlichen Sinne. Sie ist Versammlung (Ecclesia) Gottes, herausgerufen und konstituiert durch Gottes Wort, Mensch geworden und hingegeben für uns am Kreuz, vergegenwärtigt in der Eucharistie. Die Gewalt, der jeder von uns untersteht, ist die göttliche. Sie kommt im Wort des Evangeliums je neu auf uns zu und ruft uns nicht nur, sondern befähigt uns zum Gehorsam gegenüber der göttlichen Legislative, und schenkt so im Erkennen der Wahrheit die Freiheit der Kinder Gottes. 

So sieht das die Kirche. Aber viele teilen solche Glaubensinhalte nicht mehr. Und das gilt keineswegs nur für Hierarchie- und Amtsverständnis. Ist es nicht höchste Zeit, überkommene Positionen zu überdenken und heutiger Lebenswirklichkeit anzupassen, wie dies von zahlreichen Protagonisten des Synodalen Weges gefordert wird?

Sonst laufen einem doch die Leute weg. Dass die Leute in den letzten fünfzig Jahren in Heerscharen weggelaufen sind, liegt meines Erachtens daran, dass wir uns in der Verkündigung nach dem Zeitgeist und nicht nach dem Geist des Evangeliums gerichtet haben. Es ist ein Phänomen, das ich überall auf der Welt beobachte: Dort wo die Menschen das Evangelium sozusagen buchstäblich zu ihrer Lebensregel machen, wächst die Kirche und zieht Alt und Jung, Frauen und Männer gleichermaßen an.

Nina von Heereman
Foto: privat | Nina von Heereman

Nina Heereman ist Assistant Professor for Sacred Scripture am St. Patrick’s Seminar und Universität der Diözese San Francisco (USA).
Foto: privat

 

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