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Ewige Wahrheiten, gibt es das noch?

Offenbarung und Überlieferung: Warum es kein dogmenfreies Christentum geben kann.
Dialogforum Stuttgart
Foto: Harald Oppitz (KNA) | Teilnehmer im Gespräch beim Gesprächsprozess der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) "Im Heute glauben" am 13. September 2013 in der Liederhalle in Stuttgart.

Im vorbereitenden Arbeitsdokument der Amazonas-Synode war zu lesen: „In Amazonien ist das Leben ins Territorium eingepflanzt, daran gebunden und gehört zu ihm. [...] Das Territorium ist ein theologischer Ort, von dem aus man den Glauben lebt; und zugleich ein besonderer Quellgrund für die Offenbarung Gottes. Solche Räume sind Orte von ,Epiphanie‘, von Gotteserfahrung, an denen ein Reservoir von Leben und Weisheit für den Planeten aufzufinden ist, von Leben und Weisheit, die von Gott sprechen“ (Nr. 19). – Im Vorfeld des „synodalen Weges“ erscheinen vielen besonders Genderdiskurs und moralischer Pluralismus wie eine Offenbarungsquelle, nachdem man beide mit immer mehr theologischer Bedeutsamkeit aufgeladen hat.

Doch mit welchem Recht gelten das Amazonasgebiet mit seinen indigenen Kulturen und unsere säkulare Lebenswirklichkeit als Quellen der Offenbarung? Ist Offenbarung nach christlichem Verständnis nicht die Offenbarung des einen Gottes gegenüber seinem auserwählten Volk Israel und seine Selbstmitteilung in Jesus Christus, seinem fleischgewordenen Wort (Joh 1,14)?

Die dogmatische Konstitution „Dei verbum“ über die göttliche Offenbarung (1965) kennt keinen Plural von Quellen der Offenbarung. Das Konzilsdokument unterscheidet die eine Quelle der göttlichen Offenbarung in Jesus Christus und das überlieferte Wort Gottes in Schrift und Tradition.

Prinzipielle Vorbehalte

Die heilige Überlieferung und die Heilige Schrift entspringen „demselben göttlichen Quell“ und „fließen beide gewissermaßen in eins zusammen und streben demselben Ziel zu“ (DV 9). In seinem Kommentar zu dem ursprünglichen, von den Konzilsvätern abgelehnten Offenbarungsschema (1962) spricht Joseph Ratzinger von der einen Quelle der göttlichen Offenbarung sowie von Schrift und Tradition als den beiden Fließgewässern, die aus der einen Quelle hervorgehen.

Eine göttliche Offenbarung im Sinne der unüberbietbaren Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus kann es nicht ohne eine heilige Überlieferung geben, also nicht ohne eine Tradition göttlichen Ursprungs, die am Definitiven der ergangenen Offenbarung Anteil hat.

Gäbe es nicht die Treue zur Glaubenshinterlassenschaft (depositum fidei) und ihre authentische Weitergabe in der Tradition der Kirche, die Kirche könnte niemals sagen, was bleibende Glaubenswahrheit ist und was nicht. Der aus der griechischen Antike entlehnte Begriff des Dogmas meint genau dies: eine verbindliche, normative Glaubensaussage mit definitivem Wahrheitsanspruch.

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Glaubensüberlieferung nicht mehr selbstverständlich

Unter Theologen und Theologinnen ist die Anerkenntnis einer heiligen Überlieferung nicht mehr selbstverständlich. Die Glaubensüberlieferung, einschließlich der dogmatischen Lehrentwicklung, wird immer öfter unter prinzipiellen Revisionsvorbehalt gestellt. „Ewige Wahrheiten waren gestern“ – so Michael Böhnke. Für den Wuppertaler Theologen liegt das Verbindliche des christlichen Glaubens nicht in zeitübergreifenden Glaubensinhalten, sondern im Vertrauen auf Gottes Treue; alles andere am Inhaltlichen des Glaubens wird zur Variablen. Unter Rekurs auf das Wirken des Heiligen Geistes, der alles neu macht, wird die pneumatische Kraft der Gläubigen absolut gesetzt und eine dogmenfreie Kirche gefordert. Bei der Frage der Frauenordination bedient man sich neuerdings der absoluten Macht Gottes, mit der er sich auch in einer Frau hätte inkarnieren können. Wenn allerdings Gott in einem galiläischen Juden Mensch wurde und werden wollte, kann dies nicht a priori als theologisch irrelevant abgetan werden.

Das Dilemma der heutigen Theologie besteht darin, dass es keinen Konsens mehr bezüglich der Prinzipien theologischer Erkenntnis gibt. So werden Offenbarung, Glaube und Überlieferung vielfach auseinandergerissen. Dabei ist eine göttliche Offenbarung ohne Glauben (Annahme) und Überlieferung (Weitergabe) gar nicht denkbar. Der Ort aber der Schriftinterpretation ist die Kirche. Die Schrift – dies hat die Krise des reformatorischen Schriftprinzips gezeigt – interpretiert sich nicht selbst. Zudem muss sie „in dem Geist gelesen und ausgelegt werden, in dem sie geschrieben wurde“ (DV 12).

Alleinige Aufgabe des Lehramts

Es ist richtig: Jeder, der die Schrift liest, kann zu ihrem Verständnis beitragen. Doch es ist nicht Aufgabe zum Beispiel eines Bibelkreises oder eines exegetischen Forschungsseminars, sondern allein des lebendigen Lehramts der Kirche, welches seine Vollmacht im Namen Jesu ausübt, „das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes authentisch“ (DV 10), das heißt mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit, auszulegen. „Das Lehramt steht also nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nur lehrt, was überliefert ist, indem es das Wort Gottes nach göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes ehrfürchtig hört, heilig bewahrt und treu erklärt und all das, was es von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus der einen Hinterlassenschaft des Glaubens schöpft“ (DV 10). Keiner, und sei er der Papst, kann sich für seine Lehrverkündigung auf eine Inspiration oder Privatoffenbarung berufen. Glaubensnorm sind die Schrift und die authentische Glaubensüberlieferung.

Die Überlieferung der von Gott empfangenen Offenbarung ist ein dynamischer Vorgang (DV 7–8). Das traditionalistische Missverständnis von Tradition besteht darin, sie zu petrifizieren. Die authentische Glaubensüberlieferung darf aber andererseits nicht zur Disposition gestellt werden. Das Dogmatische gehört konstitutiv zur Offenbarung Gottes und ihrer geschichtlichen Überlieferung dazu. Der zum Katholizismus konvertierte Theologe Erik Peterson sprach vom „Punktum des Glaubens“.

Der Philosoph und Kulturkritiker George Steiner nennt das Dogma eine „hermeneutische Punktsetzung“. Zur Lehrentwicklung erklären die Konzilsväter: Die apostolische Überlieferung „entwickelt sich in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes weiter“ (DV 8). „Es wächst nämlich das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte sowohl aufgrund des Nachsinnens und des Studiums der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen (vgl. Lk 2, 19.51), als auch durch innere Einsicht in die geistlichen Dinge, die sie erfahren, sowie aufgrund der Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt die sichere Gnade der Wahrheit empfangen haben. Denn die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis sich an ihr die Worte Gottes erfüllen“ (DV 8).

Zur Weitergabe anvertraut

Da die apostolische Überlieferung nicht nur dem Lehramt der Bischöfe, sondern der ganzen Kirche zur authentischen Weitergabe anvertraut ist, sind bei der Glaubenshermeneutik alle Bezeugungsinstanzen des Glaubens zu berücksichtigen, darunter die Schrift, die Tradition, das Lehramt der Bischöfe, der römische

Bischof, die wissenschaftliche Theologie und der Glaubenssinn des Volkes Gottes, zu dem auch die Gemeinschaft der Bischöfe gehört. Beim Glaubenssinn ist zu beachten, dass er in synchroner wie diachroner Katholizität von allen Ortskirchen getragen wird und nicht gegen den überlieferten authentischen Glauben der Kirche stehen kann. Hier besteht eine Analogie zur einmütigen Lehre der Bischöfe.

Deshalb forderte Papst Franziskus in seinem Brief an die Gläubigen der Kirche in Deutschland, dass beim „synodalen Weg“ der Glaubenssinn der Gesamtkirche zu beachten ist.

Zu den Orten theologischer Erkenntnis zählen auch fremde, nicht genuin theologische Orte wie die Philosophie und die Geschichte. Doch kein Ort theologischer Erkenntnis, seien es Schrift und Tradition oder Philosophie und Geschichte, sind Quellen der Offenbarung. Dies gilt auch für die „Zeichen der Zeit“, die dem Erkenntnisort der Geschichte zuzuordnen sind und die im Licht des Evangeliums (GS 4) sowie der heiligen Überlieferung, sofern beide untrennbar sind (DV 9), gelesen werden müssen (DV 24). Die Freiheit des Glaubens ist daher keine Autonomie gegenüber dem überlieferten Wort der Offenbarung, von dem man sich dispensieren könnte. Zur Traditionsvergessenheit der Kirche nach dem Konzil sagte der große Jesuitentheologe Henri de Lubac: „Die Tradition der Kirche wird verkannt und nur noch als Last empfunden [...]. Dieser Tradition, die glaubend empfangen und im Glauben weitergeführt wird, stellt man vermessen die eigene persönliche ,Reflexion‘ entgegen.“

Teil der Lebenswirklichkeit

Das Zweite Vatikanische Konzil weist den Theologen und Theologinnen die Aufgabe zu, die geoffenbarte Wahrheit Gottes in der Zeit, in die sie gestellt sind, tiefer zu erfassen und für die Menschen zu erschließen (GS 62). Sie können sich nicht mit einer reinen Darstellung der kirchlichen Glaubenslehre begnügen, müssen vielmehr auch neue Wege des Glaubens sowie Formen eines zeitgemäßen Glaubensverständnisses aufzeigen. Dazu ist es nötig, zusammen mit allen Gliedern der Kirche nach den Zeichen der Zeit zu forschen. Denn die Zeichen der Zeit sind Teil unserer menschlichen Lebenswirklichkeit. Und in der Tat soll, wie das Konzil sagt, „alles wahrhaft Menschliche“ im Herzen der Jünger Christi „seinen Widerhall“ (GS 1) finden.

Doch die Lebenswirklichkeit ist nicht das Fundament der Theologie. In der Pluralität der Zeichen der Zeit gilt es „zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder des Ratschlusses Gottes sind“ (GS 11) sind und was nicht. Die Stimme unserer Zeit darf nicht einfach mit der Stimme oder dem Willen Gottes gleichgesetzt werden.

 

KURZ GEFASST

Das Dilemma der heutigen Theologie besteht darin, dass es keinen Konsens mehr bezüglich der Prinzipien theologischer Erkenntnis gibt. Offenbarung, Glaube und Überlieferung werden vielfach auseinandergerissen. Dabei ist eine göttliche Offenbarung ohne Glaube (Annahme) und Überlieferung (Weitergabe) nicht denkbar. Der Ort der Schriftinterpretation ist die Kirche. Das Zweite Vatikanum bekräftigt, es sei die alleinige Aufgabe des lebendigen Lehramts der Kirche, „das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes Gottes authentisch“ (DV 10) auszulegen.

Die apostolische Überlieferung ist nicht nur dem Lehramt der Bischöfe, sondern der ganzen Kirche zur authentischen Weitergabe anvertraut. Daher sind bei der Glaubenshermeneutik alle Bezeugungsinstanzen des Glaubens zu berücksichtigen, darunter Schrift, Tradition, das Lehramt der Bischöfe, der Papst, die wissenschaftliche Theologie und der Glaubenssinn des Volkes Gottes, zu dem auch die Gemeinschaft der Bischöfe gehört. Beim Glaubenssinn ist zu beachten, dass er von allen Ortskirchen getragen wird und nicht gegen den überlieferten authentischen Glauben der Kirche stehen kann.

 

HINTERGRUND

Wenn man das unter der Leitung von Bischof Franz-Josef Bode (Osnabrück) und Professorin Dorothea Sattler (Münster) erstellte Papier zur Vorbereitung des Gesprächsforums „Frau in der Kirche“ (https://www.dbk.de>themen>swe-synodale-weg) liest, ist die überwiegende Mehrheit der Meinung, die Kirche könne den ausdrücklich als „unfehlbar“ (DH 5041) erklärten Ausschluss der Frau vom Sakrament des Ordo revidieren.

Dabei ist den meisten Beteiligten bewusst, dass die Revision einer als „unfehlbar“ qualifizierten Lehre nur für den Preis einer Neubestimmung des Verhältnisses von Schrift, Tradition und Lehramt zu haben ist. Ohne sich ausdrücklich auf Küngs berühmt gewordene Anfrage „Unfehlbar?“ zu berufen, setzt die besagte Speerspitze des „Synodalen Weges“ voraus, dass sich die Kirche auch in ihren verbindlichen (letztlich immer auf Christus bezogenen) Aussagen geirrt hat.

Also gilt auch für die auf einem Konzil versammelten Apostelnachfolger und für den im Namen der Gesamtkirche sprechenden Petrusnachfolger, dass sie immer nur Vorläufiges dekretieren können. Man spricht zwar vom Beistand des Heiligen Geistes.

Aber man will das Wirken des Geistes klar abgehoben wissen von den Konsensbeschlüssen der Apostelnachfolger. Dogmen sind dann nichts anderes als zeitbedingte Konstruktionen. Eine der Konsequenzen ist die protestantisierende Trennung des Glaubensvollzugs (fides qua) vom Glaubensinhalt (fides quae).

„Glauben“, so erklärt die Kölner Systematikerin Saskia Wendel, „impliziert […] weder ,Glaubenswissen‘ in theoretischer noch ,Glaubensgehorsam‘ in praktischer Hinsicht. […] Hier ist eine entscheidende Differenz zu heteronomen Glaubenslehren markiert, die diesen stets noch an eine ihm vorgeordnete Autorität binden wollen, sowie zu primär theoretischen Bestimmungen des Glaubens, die ihn dann mit dem Label ,wahr‘ versehen, wenn er in theoretischer Hinsicht als ,wahr‘ bezeichnete Überzeugungen gehorsam anerkennt und in praktischer Hinsicht in Übereinstimmung mit diesen Überzeugungen handelt, sie also ihnen folgend getreu umsetzt.“ DT

 

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