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Friedrich Merz: Technokratischer Visionär

In seinem neuen Buch beschreibt Friedrich Merz, wie er die Soziale Marktwirtschaft reformieren will. Spielt die Katholische Soziallehre dabei noch eine Rolle?
Merz und Eisenmann in Murrhardt
Foto: dpa | Hat Friedrich Merz auch Gedanken aus der katholischen Soziallehre im Kopf, wenn er seine Vision von Sozialer Marktwirtschaft entwickelt?

Friedrich Merz steht nicht gerade im Ruf, ein Freund des kleinen Mannes zu sein. Die Katholische Soziallehre hingegen schon. Nun hat Merz wieder ein Buch geschrieben, in dem er seine Vorstellungen davon darlegt, wie Deutschland in den kommenden zehn Jahren gestaltet werden sollte: „Neue Zeit. Neue Verantwortung“ (Econ). Auch die Freunde des kleinen Mannes wissen, dass der Sozialstaat in Deutschland nicht erst seit der Corona-Krise vor massiven Herausforderungen steht, um seine Finanzierbarkeit zu erhalten. Diese wird durch die gleichzeitig zu beantwortenden Fragen des teuren ökologischen Umbaus der Sozialen Marktwirtschaft und der Digitalisierung noch verschärft. Deshalb lohnt sich auch aus einem von der katholischen Soziallehre geprägten Blickwinkel ein Blick auf die Vorschläge eines in Wirtschaft und Finanzpolitik erfahrenen Mannes wie Merz. Denn die Fragen, die er verhandelt, betreffen mindestens alle westlichen Gesellschaften.

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Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand

Dabei fällt auf, dass der Unterschied von Merz und der Katholischen Soziallehre auf den ersten Blick gar nicht allzu groß ist. Gerade auf das Subsidiaritätsprinzip, das man als ein Markenzeichen der Soziallehre verstehen kann, beruft sich Merz immer wieder explizit. Merz stellt in seinem Buch viele Vorschläge vor, die es wert wären, ausführlich bedacht zu werden. Dabei zeigen sich auch beim Blick auf die konkreteren Details viele Konvergenzen zur Soziallehre: Zum Beispiel wenn er neben der staatlichen Rente als Grundsicherung eine stärkere Arbeitnehmerbeteiligung am Produktivvermögen in Form von Aktien zum Aufbau privaten Kapitals für die Altersvorsorge vorschlägt. Schon der Nestor der katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning, sprach von der „Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand“. Das ist ein wichtiger Schritt, um das deutsche System der Altersvorsorge zukunftsfest zu machen. Auch etwa Merz' Wunsch, dass die Gesellschaft insgesamt kinderfreundlicher werden müsse, und zwar um der Kinder willen, passt gut zu katholischem Denken. Die Liste ließe sich um eine Vielzahl von Punkten ergänzen.

Das Subsidiaritätsprinzip sagt im Wesentlichen aus, dass größere Einheiten immer nur im Dienst an der Verwirklichung von Freiheiten der kleineren Einheiten in deren jeweilige Autonomie eingreifen dürfen: Menschen leben immer in konkreten, kleinteiligen Verhältnissen vor Ort. Dort sollen sie auch für sie wichtige Entscheidungen selbstverantwortlich treffen können. Damit das aber garantiert ist, ist es häufig von Nöten, sich in größeren Organisationen zusammenzuschließen, die zwar bestimmte Gestaltungsfreiräume einschränken, aber die kleineren Einheiten entlasten sollen, damit diese einen insgesamt größeren Freiheitsraum ausnutzen können.

Kleine Einheiten stehen im Fokus

Bei Merz stehen ganz klar die kleineren Einheiten im Fokus: Familien, Vereine, einzelne Unternehmer sollen von den übergeordneten (staatlichen) Einheiten befähigt und nicht behindert werden, Verantwortung im größtmöglichen Umfang zu übernehmen. Das bleibt bei Merz durchaus nicht abstrakt, sondern geht bis in die Frage hinein, wie die Politik dafür Sorge tragen kann, dass auch ländliche Räume eine stabile Netzverbindung haben, um vor Ort Freiheitsräume zu eröffnen, statt sie durch Nichtstun zu verkleinern.

Insgesamt strotzt Merz' Entwurf vor Tatkraft und Unternehmungsgeist. Das sind offensichtlich genau die Eigenschaften, die er auch in der Breite der Gesellschaft wecken und fördern möchte. Zwar betonte insbesondere Johannes Paul II., dass das sozialpflichtige Eigentum auch erst durch unternehmerisches Handeln erwirtschaftet werden müsse. Dennoch sollte man vorsichtig sein, hier die von Merz favorisierten Charaktereigenschaften in den Rang von „katholischen“ Tugenden zu erheben. Das ist allein deswegen schon abwegig, weil die Soziallehre der Kirche keine ökonomische Theorie oder gar eine Blaupause für eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung ist. Im Eigentlichen ist sie Anthropologie und theologische Sozialphilosophie mit dem Ideal eines ganzheitlichen und solidarischen Humanismus. Die Prinzipien der Soziallehre – Solidarität, Subsidiarität, Gemeinwohl, Nachhaltigkeit – leiten sich aus der Bestimmung des Menschen als von Gott ins Dasein gerufene Person her: immer zugleich autonomes Individuum von unendlicher Würde und ein soziales, endliches Wesen; unternehmerisch, tatkräftig und eigenverantwortlich, aber eben auch entlastungsbedürftig, schwach und vor allen Dingen erlösungsbedürftig. Von diesem christlichen Menschenbild aus leitet sich das Subsidiaritätsprinzip ab, das immer mit allen anderen Prinzipien verklammert gesehen werden muss.

Ludwig Erhard plus katholische Soziallehre

Von daher wundert es nicht, dass die Vorstellung der Katholischen Soziallehre von staatlicher Ordnung so hohe Konvergenzen mit dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft aufweist, von dem Ralf Dahrendorf sagen konnte, Soziale Marktwirtschaft sei „Ludwig Erhard plus katholische Soziallehre“. Dass Merz' Entwurf, der der Ordnungsvorstellung der Sozialen Marktwirtschaft verpflichtet ist, sich dadurch an vielen Stellen nah an den Bahnen der Soziallehre bewegt, ist daher wenig verwunderlich. Allerdings bleibt es doch fraglich, ob Merz hier nicht eher den technisch-ordnungspolitischen Pol an einigen Stellen so stark macht, dass der ethisch-kulturelle vollkommen herunterfällt und sich Ordnungspolitik in Technokratie wandelt. Aus Sicht der Soziallehre muss aber immer beides verschränkt gedacht werden.

Umfassende Gerechtigkeit

Das scheint etwa dann der Fall zu sein, wenn Merz dafür optiert, für junge Unternehmer lieber „Steuervermeidungsmodelle“ zu schaffen, als durch fehlende Arbeitsplätze einen noch viel höheren Steuerausfall zu riskieren. Das Problem dabei mag weniger die Feststellung sein, dass es besser ist, weniger Steuern als gar keine Steuern zu haben. Viel schwerer muss aus Sicht der Katholischen Soziallehre wiegen, dass Merz hier überhaupt nicht die Frage nach umfassender Gerechtigkeit stellt, die eben auch die Frage nach Verteilungsgerechtigkeit umfasst und nicht nur die nach Leistungs- und Chancengerechtigkeit, von denen er viel in seinem Buch spricht.

Endgültig kippt dies aber um im Blick auf Merz' Ausführungen zur ökologischen Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft. Dabei hat er weniger einen Blick für eine ganzheitliche ökologische Orientierung menschlichen Lebens und Zusammenlebens, obwohl er das Schlagwort von der „Bewahrung der Schöpfung“ immerhin noch nennt. Er hat nur die Reduktion von CO2-Emissionen im Blick und redet viel über Technologien und von der Notwendigkeit einer größeren „Technologieoffenheit“. Das ist auch aus Sicht der Soziallehre nicht falsch, aber eben ein rein technokratischer Blickwinkel. Bei einer Orientierung an der Leitperspektive „Bewahrung der Schöpfung“ wäre hier ein klareres Bild von einer ökologischen Lebensweise und Kultur, wie sie auch Papst Franziskus in seiner Umweltenzyklika „Laudato si‘“ (2015) wenigstens andenkt, zu skizzieren gewesen. Für Merz ist die Frage des Klimawandels aber offensichtlich nur eine technokratische Frage, nicht die einer umfassenden kulturellen Krise. Ähnliches ließe sich zu seinen vielen Ausführungen zur Digitalisierung sagen.

Erfolg und Ethik können nicht getrennt werden

Es ist eben die Perspektive des tatkräftigen Unternehmers, des Machers. Aus Sicht des katholischen Denkens über die menschliche Person und deren Sozialität können Machen und ethische Reflexion aber nicht voneinander getrennt werden. Eine menschliche Gesellschaft braucht immer beides. Bei Merz ist das nicht gut ausbalanciert, sodass auch sein permanenter Rekurs auf das Subsidiaritätsprinzip stärker technokratisch als ethisch-kulturell wirkt. Da ist es dann weniger verwunderlich, dass die Verklammerung von Subsidiarität mit Solidarität bei ihm cum grano salis unter den Tisch fällt. So beispielsweise auch beim Blick auf die Altersvorsorge: Eigenverantwortung, wie sie Merz vorschwebt, ist zwar vom Subsidiaritätsprinzip her geboten. Bei Merz taucht der Gedanke an diejenigen, die nicht genug verdienen können, um eigenes Vermögen für die Altersvorsorge aufzubauen, aber gar nicht erst auf. Das aber wäre vom christlichen Menschenbild, das mit einer klaren Option für die Armen verknüpft ist, geboten gewesen: Nicht Subsidiarität statt Solidarität ist aus Sicht der Soziallehre Maßstab für eine gerechte und gute Ordnung von Staat und Gesellschaft, sondern Solidarität und Subsidiarität.

Der Autor ist Wissenschaftlicher Referent der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle.

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