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Oswald von Nell-Breuning: Der Nestor der Soziallehre

Christliche Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft – Teil VI: Oswald von Nell-Breuning. Von Thomas Dörflinger
Oswald von Nell-Breuning im Gedankenaustausch mit Bundesarbeitsminister Norbert Blüm
Foto: KNA | Ein gefragter Ratgeber: Oswald von Nell-Breuning im Gedankenaustausch mit Bundesarbeitsminister Norbert Blüm im Jahr 1985.

Bezeichnet man eine Person in einer bestimmten Disziplin als „Nestor“, dann meint dies den größten lebenden Vertreter dieser Schule. Oswald von Nell-Breuning trägt diese Bezeichnung bezogen auf die katholische Soziallehre zu Recht; in seiner wissenschaftlichen und publizistischen Tätigkeit berät er Päpste genauso wie Regierungen und Parteien. Nell-Breuning ist bis zuletzt nie bequem, er macht es sich und anderen nicht einfach. Einer der gründlichsten Denker des 20. Jahrhunderts, ein Gelehrter im besten Sinne des Wortes.

Ghostwriter für den Papst

Ginge es nach dem Wunsch der Eltern, soll der 1890 Geborene einmal zuhause das Weingut übernehmen. Schon in der Schule zeigt sich aber seine besondere Begabung, und so führt Nell-Breunings Weg zunächst zu naturwissenschaftlichen Studien, bevor er sich der Philosophie und Theologie zuwendet. Zwischenzeitlich dem Jesuitenorden beigetreten, werden nicht nur die Ordensoberen auf den jungen Wissenschaftler aufmerksam. Er macht 1928 mit seiner Dissertation Furore, die er „Grundzüge der Börsenmoral“ betitelt, und die im Kontext der damaligen Weltwirtschaftskrise entsteht. Wer das Büchlein heute zur Hand nimmt, stößt auf eine Schrift, deren wesentliche Aussagen auch unter dem Eindruck der Finanzkrise 2008 hätten geschrieben werden können.

Es nimmt nicht Wunder, wenn Nell-Breuning schon kurze Zeit später, nunmehr mit Professur an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt, durch den jesuitischen Ordensgeneral, der seinerseits Berater des Papstes ist, beauftragt wird, an der Erarbeitung einer Sozialenzyklika von Pius XI. mitzuwirken. Der Heilige Stuhl will mit dem grundlegenden Dokument unter dem Titel „Quadragesimo anno“ an die Sozialenzyklika Leos XIII. von 1891 erinnern und die katholische Soziallehre fortentwickeln. Die Schrift trägt über weite Strecken unzweifelhaft die Handschrift Oswald von Nell-Breunings. An zwei Punkten lässt sich dies besonders eindrucksvoll nachvollziehen. Erstmals wird eine ausführliche Definition des Prinzips der Subsidiarität (Ziffer 79) geliefert und die gleichzeitige Mahnung nachgeschoben: „Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“

Zweitens begreift Pius XI. unter dem Einfluss Nell-Breunings die Lösung der sozialen Frage im Unterschied zu Leo XIII. nicht nur als die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, sondern als Herstellung möglichst hoher Gemeinwohlgerechtigkeit. Die Reflexion der leonischen Formulierung, wonach Kapital und Arbeit wechselseitig aufeinander angewiesen sind, impliziert deren grundsätzliche Gleichwertigkeit. Er wird später einmal sagen, dass wir alle auf den Schultern von Karl Marx stünden, was ihm zeitweise den Vorwurf der mangelnden Distanzierung vom Marxismus eingetragen hat. So findet sich in der Terminologie von „Quadragesimo anno“ zwar manches („Entproletarisierung des Proletariats“), was an Marx erinnert. Der Vorwurf übersieht freilich, dass der Jesuit sich lediglich insoweit auf Marx berief, als er seine gesellschaftliche Analyse weitgehend teilte, in seinen Schlussfolgerungen aber gänzlich andere Wege beschritt, was in der deutlichen Ablehnung kommunistischer und sozialistischer Lösungsansätze zum Ausdruck kommt, die ebenfalls Gegenstand der Enzyklika sind.

Sozial temperierter Kapitalismus

Nach Publikationsverbot, mehreren Haftstrafen und einer gegen ihn verhängten hohen Geldstrafe in der NS-Zeit dauert es lange, bis Nell-Breuning öffentlich rehabilitiert ist. Zwar werden seine bürgerlichen Ehrenrechte 1948 wiederhergestellt, die hohe Geldstrafe von 500 000 RM wegen angeblicher Devisenvergehen wird aber erst 1950 endgültig aufgehoben. In der jungen Bundesrepublik ist der Universalgelehrte ein gefragter Ratgeber. Er gehört 1949 zu den Mitbegründern des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU), wird Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium und fungiert gleichfalls als Berater des DGB, dem er sich zeit seines Lebens als Anhänger der Einheitsgewerkschaft in besonderer Weise verbunden fühlt, was ihn später allerdings nicht daran hindern wird, gegen die gewerkschaftliche Forderung nach der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich Position zu beziehen. Ist er den einen zu links, gilt er den anderen als immer noch zu ordoliberal in der Nachfolge der Freiburger Schule. Nell-Breuning aber ist ein freier Geist; er unterstützt und fördert die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, erhebt aber immer seine Stimme, wenn die politischen Vorstellungen von Regierungen und Parteien zu sehr in eine Richtung gehen, die er als „sozial temperierter Kapitalismus“ bezeichnet. Bis zu seinem Tod 1991 bleibt der Nestor unermüdlich; insgesamt über 1 800 Publikationen veröffentlicht er im Laufe seines Lebens. Mit seinem Namen verbindet sich die Systematisierung der katholischen Soziallehre und insbesondere das Prinzip der Subsidiarität, das mindestens nominell sowohl in der Sozialen Marktwirtschaft als auch in der Verfassungslehre, etwa im Vertrag von Lissabon, Eingang gefunden hat. Es wäre heute eine mehr als spannende Frage an den Gelehrten, inwieweit er die von ihm teils selbst formulierten Ideen in Politik, Gesellschaft, Ökonomie und Kirche verwirklicht oder aber eine Abkehr von diesen sieht.

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