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Alexander Rüstow hat's erfunden

Alexander Rüstow prägte den Neoliberalismus, verstand aber darunter anderes als viele heute meinen - Christliche Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft, Teil XIII.
Alexander-Rüstow-Plakette an Angela Merkel
Foto: dpa | Trägt die Kanzlerin Alexander Rüstow auf Händen? Jedenfalls ist Angela Merkel 2018 von der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft mit der Plakette ausgezeichnet worden, die nach Rüstow benannt ist.

Nur wenige verbinden heute mit dem Begriff „neoliberal“ etwas Positives. Zu gegenwärtig sind noch die jüngsten Erfahrungen, dass der völlig entfesselte Markt in erster Linie sich selbst dient und die Allgemeinheit am Ende des Tages die Rechnung bezahlen darf. Der Begriff des Neoliberalismus geht auf Alexander Rüstow zurück; der Soziologe und Ökonom führt ihn 1938 in den wissenschaftlichen Diskurs ein. Es lohnt der Blick auf das, was Rüstow darunter versteht. An vielen Stellen zeigt sich das konkrete Gegenteil dessen, was heutzutage unter „neoliberal“ verstanden wird.

Verteidiger der Weimarer Republik

Preußentum und Pietismus kennzeichnen das Elternhaus von Alexander Rüstow, der 1885 in Wiesbaden geboren wird. Dem vorzeitig abgelegten Abitur folgt das Studium in mehreren naturwissenschaftlichen Fächern, in Jura und Volkswirtschaft; bereits mit 23 Jahren wird Rüstow in Altphilologie promoviert. Seine anschließende Habilitierung wird durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen, zu dem er sich – der Familientradition folgend – als Freiwilliger meldet. Als Referent im Reichswirtschaftsministerium beschäftigt sich Alexander Rüstow vorwiegend mit Fragen des Kartellrechts; die Kartellverordnung 1923 trägt seine deutliche Handschrift. Ab 1924 arbeitet Rüstow für den Verband der Maschinenbauer; hier knüpft er erste Kontakte zu Walter Eucken und Wilhelm Röpcke. Schon früh erkennt Rüstow die Gefahren für die Weimarer Republik. In der verfassungsrechtlichen Kritik an Weimar stellt er mit Vorschlägen zur Stärkung der Position des Kanzlers, zu dessen notwendiger Richtlinienkompetenz oder zur Abwahl des Regierungschefs nur über ein konstruktives Misstrauensvotum Ideen vor, die später von der Parlamentarischen Versammlung 1949 aufgegriffen und Eingang ins Grundgesetz finden werden. Dass Freiheit, die verfassungsrechtlich garantiert sei, auch tatsächlich stattfinde, setze voraus, dass die Bürger etwas für ihr Gemeinwesen tun.

Machtergreifung 1933: Rüstow geht ins Exil

Wenige Monate nach Hitlers Machtergreifung geht Rüstow ins Exil; die Universität Istanbul beruft ihn auf einen Lehrstuhl für Wirtschaftsgeografie. Nebenbei dient er dem amerikanischen Geheimdienst als Verbindungsmann zum Kreisauer Kreis. Das sogenannte Colloque Walter Lippmann, wo sich auf Einladung des US-Journalisten Lippmann 1938 in Paris Intellektuelle aus der ganzen Welt treffen, ist in der Vita Alexander Rüstows ein entscheidender Punkt. Es sollen die Möglichkeiten einer neuen liberalen Ordnung, die sich vom Laissez-fair unterscheidet, erörtert werden. Rüstow setzt sich am Ende mit seiner Begriffsfindung „Neoliberalismus“ durch, aber es wird deutlich, dass die dahinterstehende Theorie nicht unumstritten ist. Stehen nahezu alle Teilnehmer positiv zu Privateigentum und Vertragsfreiheit, ist die Rolle des Staates strittig. Im Gegensatz zu Friedrich August von Hayek pocht Rüstow auf einen starken Staat. Er wird daher später in Anlehnung an Franz Oppenheimer von „Sozialliberalismus“ sprechen, um seine Vorstellungen von jenen abzugrenzen, die heute als marktradikal begriffen werden.

Markt soll dem Menschen dienen

„Vitalpolitik“ – mit diesem Begriff konkretisiert Alexander Rüstow sein marktwirtschaftliches Konzept. Der Markt hat eine dem Menschen dienende Funktion; da der Wettbewerb im Markt alleine aber keine ausreichende soziale Funktion entfaltet, müssen am Rand des Marktes organisatorische Prinzipien stehen, die moralisch geprägt sind: Religion, Ethik, Kultur und Familie. In Rüstows Analyse haben Konzentration und Monopolbildung in der Wirtschaft einen wesentlichen Beitrag zum Niedergang Weimars geliefert. Die Konsequenz daraus müsse eine gezielte Förderung des Mittelstands sein.

Rüstow plädiert mit Nachdruck für eine stabile Währung: Zur Haushaltsfinanzierung Geld zu drucken ist für ihn nicht vorstellbar; eine solche Politik ziehe durch Inflation unweigerlich die besondere Belastung von Geringverdienern nach sich. Maßhalten fordert er auch in der Tarifpolitik, weil die Lohn-Preis-Spirale letztlich zur gleichen Konsequenz führe. Der neue Liberalismus, so skizziert Rüstow 1932 auf einer Tagung des „Vereins für Socialpolitik“, verstehe sich als Bekenntnis, dass ein starker Staat, ein Staat oberhalb der Wirtschaft und seine liberale Wirtschaftspolitik sich gegenseitig bedinge.

Nach dem Ende seines türkischen Exils kehrt Alexander Rüstow 1949 nach Deutschland zurück und wird 1950 Ordinarius für Wirtschafts- und Sozialwissenschaft an der Universität Heidelberg.

In Stiftungen und Denkfabriken engagiert

Parallel hierzu engagiert er sich ehrenamtlich, auch nach seiner Emeritierung, in verschiedenen Stiftungen und Denkfabriken wie der „Arbeitsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft“, wodurch er engen Kontakt zu Ludwig Erhard pflegt. Rüstow bleibt seinen ordnungs- und wirtschaftpolitischen Prinzipien treu, weshalb er manche politische Entscheidung der Nachkriegszeit eher kritisch beleuchtet. Zwar äußert er sich 1952 zustimmend zum Betriebsverfassungsgesetz, das Bundessozialhilfegesetz dagegen findet nur seinen eingeschränkten Beifall, obwohl es in seiner Grundidee auf ihn zurückgeht.

Bei der Verleihung der Rüstow-Plakette an den Bundespräsidenten wird Horst Köhler 2011 das Credo Rüstows mit Blick auf den politischen Ordnungsrahmen so auf den Punkt bringen: „Das finden praktisch alle gut, ganz ausgezeichnet sogar – es darf nur nicht die Verfolgung des jeweiligen Eigeninteresses einengen, dann wird es schnell als unbequem empfunden und als dogmatisch kritisiert.“

Alexander Rüstow stirbt im Juni 1963 in Heidelberg. Seine Gedanken sind in mehrfacher Hinsicht aktueller denn je; vermutlich ein Grund, weshalb das Walter-Eucken-Archiv 2001 seine Schrift „Die Religion der Marktwirtschaft“ neu auflegt.

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