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Der Arbeiterbischof Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler

Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft – Teil III: Wilhelm Emmanuel von Ketteler. Von Thomas Dörflinger
Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler, Bischof von Mainz
Foto: KNA

Den Titel „Arbeiterbischof“ erlebt er selbst vermutlich als besondere Auszeichnung, aber seine Bedeutung für die katholische Soziallehre und die Soziale Marktwirtschaft liegt deutlich tiefer: Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler ist preußischer Jurist, Priester, später zeitweise Politiker mit parlamentarischem Mandat und Erzbischof von Mainz. Papst Leo XIII. wird ihn „unseren großen Vorgänger“ nennen. Ketteler ist nicht nur Gründer der „Katholischen Arbeitnehmerbewegung“ (KAB), sondern gilt als der Vertreter des deutschen Episkopats im 19. Jahrhunderts, der die Soziallehre der Kirche am deutlichsten beeinflusste.

Der Werdegang von Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler

In eine westfälische Adelsfamilie hineingeboren, weist der berufliche Weg Kettelers zunächst in die weltliche Richtung. Nach dem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften wird er Jurist im preußischen Staatsdienst.

Die Inhaftierung des Kölner Erzbischofs Droste zu Vischering ist für den 26-Jährigen der erste von mehreren Wendepunkten; er verlässt den Staatsdienst, ihn zieht es zunächst nach München. Nach einer Orientierungsphase, in der er die Bekanntschaft von Joseph Görres und Adolph Kolping macht und ihn der Münchner Kardinal von Reisach beeinflusst, nimmt Ketteler das Studium der Theologie auf. Noch ist sein Interesse für die „Soziale Frage“ eher theoretischer Natur.

Die Konfrontation mit dem Elend der Menschen bereits an seinen ersten Wirkungsstellen in Westfalen wecken in dem jungen Geistlichen praktische Ansätze. Er gründet in Beckum ein Krankenhaus und lässt sich in die politische Verantwortung nehmen. 1

848 wird er in die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche gewählt. Dort wird er rasch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. In einer Gedenkrede für ermordete Abgeordnete referiert er über eine gerechte Ordnung für Staat und Gesellschaft, und es wird deutlich: Ketteler plädiert nicht nur für die Freiheit der Person, er reklamiert die Freiheit der Kirche gegenüber einem Staat, bei dem er die ethischen Grundlagen nicht gegeben sieht. Mit seinem Freiheitsbegriff setzt er sich in klaren Widerspruch sowohl zur preußischen Staatsidee als auch zum Liberalismus der Paulskirche.

Eigentum verpflichtet

Ketteler kehrt nach gut zwei Jahren desillusioniert aus der Paulskirche zurück in die Seelsorge. Noch als „Bauernpastor“ von Hopsten skizziert er in den Mainzer Adventspredigten 1848 seine Vorstellungen über „Die großen Sozialen Fragen der Gegenwart“. Ketteler diagnostiziert eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, kritisiert den damals herrschenden Eigentumsbegriff und nimmt in der von ihm geforderten Sozialpflichtigkeit den heute geltenden Artikel 14 des Grundgesetzes quasi vorweg. Der junge Pastor macht als Ursache der herrschenden Situation in erster Linie eine mangelnde Orientierung am Gebot der Nächstenliebe aus. Erst später und bedingt durch den Einfluss Ferdinand Lasalles wird seine Argumentation breiter, wenn er etwa die Errichtung von Produktivgenossenschaften und die Beteiligung der Arbeiter am Unternehmensgewinn fordert.

Nach kurzer Tätigkeit als Propst von St. Hedwig in Berlin wird er im Juli 1850 zum Bischof von Mainz geweiht. Hier wird rasch sichtbar, dass er die Lösung der Sozialen Frage auch als direktes Engagement der Kirche versteht. Er forciert das kirchliche Schulwesen, treibt die Gründung von Waisenhäusern und anderen karitativen Einrichtungen voran. 1864 publiziert er mit „Die Arbeiterfrage und das Christentum“ eine Zusammenfassung seiner Ideen.

„Ohne Ketteler wären wir noch nicht so weit.“

Im Bischof steckt aber auch der Politiker. In seiner berühmt gewordenen Ansprache vor 10 000 Arbeitern 1869 bei Offenbach fordert er höhere Löhne, Verkürzung der Arbeitszeiten, die Einhaltung der Sonntagsruhe und auch das Verbot von Kinderarbeit. Besonderen Schutz sollten junge Mädchen und schwangere Frauen genießen. Die Lösung der Arbeiterfrage ist für Ketteler nun eine Trias, bestehend aus staatlicher Sozialpolitik, Selbsthilfe der Arbeiter in Gewerkschaften und kirchlicher Caritas. Im gleichen Jahr gelingt es ihm, dass sich die Fuldaer Bischofssynode erstmals mit dem Thema befasst.

Noch einmal zieht es den Bischof zurück in die Politik. 1871/72 gehört er als Abgeordneter des Zentrums, dessen Gründung er maßgeblich befördert hatte, dem Reichstag an. Er stirbt 1877 auf der Rückreise aus Rom. Der Seelsorger Ketteler, so wird es sein Mainzer Nachfolger Karl Lehmann mehr als 100 Jahre später formulieren, hatte eine große Witterungsfähigkeit für soziale Not und ihre Herausforderungen. Seine Bedeutung fasst mit Bismarck ausgerechnet einer seiner schärfsten Widersacher zusammen: „Ohne Ketteler wären wir noch nicht so weit.“

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