Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündete Eleanor Roosevelt, Vorsitzende der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen und frühere Ehefrau des amerikanischen Präsidenten, am 10. Dezember 1948 um drei Uhr nachts. Urheber der Charta der Menschenrechte waren die Vereinten Nationen, die 1945 gegründet wurden und sich verpflichteten, die Welt vor der „Geißel des Krieges zu bewahren“. Mit dem Grundgedanken, „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, sollten die Lebensbedingungen der Menschen weltweit in Freiheit verbessert werden. Heute gehören zu den Freiheitsrechten die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die Informationsfreiheit. Nicht Mitglieder der UNO sind Taiwan, der Vatikan, Palästina, Nordzypern, (West-)Sahara, Kosovo, Abchasien und die Cook-Inseln.
Herr Proffesor Rothaar, 1948 haben die Vereinten Nationen die Menschenrechtscharta formuliert – warum hat der Vatikan bis heute die Menschenrechtserklärung nicht unterzeichnet, auch nicht die Europäische Menschenrechtskonvention?
Man kann es nur aus historischer Perspektive versuchen zu erklären. Gerade im 18. und 19. Jahrhundert gab es große Vorbehalte der Kirche gegen die Menschenrechte in dem Sinn, wie sie in der Französischen Revolution formuliert worden sind. Aufgrund der Frontstellung zwischen Kirche und französischer Revolution ist dann leider auch eine Frontstellung gegenüber den Menschenrechten entstanden, die letzten Endes mit gewalttätigen Umtrieben identifiziert wurden.
Waren die Menschenrechte zuvor nicht schon durch die spanische Scholastik des 16. Jahrhunderts für die Kirche positiv besetzt?
Ja, es hat bereits wesentliche Beiträge zur Entwicklung des modernen Rechtsbegriffs in der spanischen Spätscholastik gegeben; etwa die Entwicklung des Grundgedankens, dass es bestimmte Rechte gibt, die für alle Menschen auf der Welt gelten. Das sind Gedanken, bei deren Herausbildung die katholische Theologie und die daran orientierte Philosophie, vor allem die Scholastik, eine ganz zentrale Rolle spielen. Allerdings hat sich im 18. Jahrhundert der Gedanke von solchen grundlegenden Menschenrechten mit den philosophischen Vertragstheorien, dem Kontraktualismus, verbunden, also der Strömung, die auf Thomas Hobbes zurückgeht und die versucht, eine staatliche Ordnung allein auf der Basis des Gedankens eines Vertrags zwischen den Bürgern zu verstehen. Dieser Gedanke verbindet sich dann im 18. Jahrhundert mit dem Menschenrechtsgedanken, wie er sich eigentlich schon in der späten Scholastik im 16. Jahrhundert herausgebildet hat. Dadurch gewinnt die Menschenrechtsidee in den Augen der Kirche offenbar einen problematischen Aspekt. Denn der Kontraktualismus stellt sich in den Augen der Kirche im 18./19. Jahrhundert deshalb als problematisch dar, weil die staatliche Ordnung nicht auf Gott, sondern auf einen Vertrag zwischen Menschen zurückgeführt wird. Gleichzeitig entstand das Problem, dass die Menschenrechte im 18. und weit bis ins 19. Jahrhundert primär als Freiheitsrechte gedacht werden. Dass bei Kant Freiheit nicht als göttliches Gesetz, sondern als Vernunftprinzip, das sich aus der rein praktischen Vernunft ergibt, verstanden wird, hat noch zusätzlich zu Vorbehalten in der Kirche geführt.
Eine entscheidende Frage ist, wie sich das Menschenrecht verstehen lässt. Als nur empirisches Recht ist es sicher nicht zu fassen.
Um die Jahrhundertmitte des 20. Jahrhunderts gab es einen großen Schub in der Versöhnung der Kirche mit dem modernen Menschenrechtsgedanken: Es ist kein Zufall, dass ein dezidiert katholischer Denker wie Jacques Maritain dann doch wesentlich an der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beteiligt war. Aber auch schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat eine starke Annäherung der Kirche an die Menschenrechte stattgefunden; das geht so weit, dass die Kirchen heute zu den stärksten Verfechtern des Menschenrechtsgedankens gehören. Gerade der Gedanke einer überpositiven Würde des Menschen, die im deutschen Grundgesetz verankert ist, spielte hierbei eine besondere Rolle.
Papst Pius VI. hat im Blick auf die Französische Revolution die Menschenrechte noch abgelehnt. Die Kirche war im 19. Jahrhundert davon mehr oder weniger geprägt, es gab aber auch da schon eine Wendung zum menschenrechtlichen Universalismus. In den 1870er Jahren hat Papst Leo XIII. gesagt, es gäbe „innerhalb des göttlichen Rechts gewisse Menschenrechte“. Wie ist diese Wende damals denkbar gewesen?
Auslöser für diese Wende war sicher die Vorarbeit in der frühen Neuzeit gerade durch die spanische Spätscholastik, die wahrscheinlich aber erst einmal wieder ins Bewusstsein zurückkehren musste. Dabei musste man sich darüber klar werden, dass hier auch eine Wurzel der Vertragstheorie gelegen hat, die sich im 18. Jahrhundert durchgesetzt hat. Es ist deutlich, dass der englische Philosoph John Locke von den Gedanken der spanischen Spätscholastik beeinflusst war, als er schrieb, der Mensch habe von Natur aus ein Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum. Er hat allerdings als Quelle hierfür die Spanier nicht genannt. So sind auch in den Kontraktualismus christliche Grundgedanken eingeflossen, die die Menschenrechte für die Kirche annehmbar werden ließen.
Unter den Menschenrechten gibt es heute auch etwa das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard zum Beispiel im Hinblick auf die eigene Gesundheit und das Wohlbefinden. Sind diese Rechte beliebig erweiterbar und letztlich willkürlich?
Ich gehöre zu denen, die skeptisch sind gegenüber einer Inflationierung der Menschenrechte, zumal viele dieser neu formulierten Menschenrechte nur Anwendungen existierender Menschenrechte auf bestimmte Problemkonstellationen sind – das Recht auf Wasser kann man auch abstrakter ausdrücken im Sinne eines Rechts auf Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen, und das kann man dann zurückführen auf ein Anspruchsrecht auf Leben. Von daher glaube ich, dass ein bestimmter Teil dieser Inflationierung einfach nur damit zusammenhängt, dass man versucht, ein bestimmtes grundlegendes Menschenrecht im Hinblick auf eine bestimmte Situation auszubuchstabieren; ob man dann wirklich sagen muss, das ist ein neues Menschenrecht, da bin ich doch etwas skeptisch.
Man sollte also an dem Kernbestand der Rechte festhalten?
Ja. Dazu gibt es große Diskussionen. Im 18. und 19. Jahrhundert gab es zunächst einmal ein Verständnis von Menschenrechten, das davon ausgeht, dass nur Abwehrrechte Menschenrechte sind, dass es also zum Beispiel ein Abwehrrecht auf Leben, aber kein Anspruchsrecht auf Leben gibt. Das bedeutet: Jeder hat ein Recht, von anderen nicht getötet zu werden, aber es gibt kein Recht darauf, dass ein anderer die Ressourcen zur Verfügung stellt, die notwendig sind, damit man überhaupt überleben kann. Und daraus erklärt sich auch unter anderem die Ablehnung der Menschenrechte durch Karl Marx. Er hatte dieses Menschenrechtsverständnis als Abwehrrecht vor Augen und hat dann gesagt, dass sich damit die Probleme der Verelendung des Proletariats nicht lösen lassen. Im Gegenteil, die Menschenrechte würden nur die Eigentumsverhältnisse festschreiben. Erst im 20. Jahrhundert entwickelt sich der Gedanke von Anspruchsrechten, die über Abwehrrechte hinausgehen, aber dann auch so ihre Probleme aufweisen: weil in der Theorie dann oft das Prinzip fehlt, aufgrund dessen man den Umfang dieser Anspruchsrechte bestimmen könnte.
Die Gefahr der Inflationierung ist insofern im Gedanken des Anspruchsrechts selbst schon angelegt. Außerdem tauchen Fragen auf, die es bei Abwehrrechten so nicht gibt: Wer ist der Adressat von Pflichten bei Anspruchsrechten? Beim Abwehrrecht ist das völlig klar, nämlich jeder, der die verbotene Handlung begehen könnte. Und: Was muss man überhaupt tun, um diesem Anspruchsrecht Genüge zu tun? Beim Abwehrrecht ist das auch klar: die Handlung unterlassen, die durch das Recht untersagt wird, also zum Beispiel nicht töten. Aber wann ist einem Anspruchsrecht etwa auf angemessene Gesundheitsversorgung Genüge getan und wann nicht? Da muss man sich darüber unterhalten, welche Gesundheitsversorgung angemessen ist und dann kommen viele Unbestimmtheiten und Grauzonen ins Spiel.
Hängt nicht auch die Universalität dieser Menschenrechte in der Luft, weil sie doch immer vom positiven Recht eines jeweiligen Staates abhängen, ob sie berücksichtigt werden oder nicht?
Gerade bei den Anspruchsrechten hängt es nicht zuletzt von den ökonomischen Bedingungen ab, ob sie verwirklicht werden können oder nicht. Da kommen viele Bedingtheiten und Vagheiten hinein, auch kulturelle, die es bei den Abwehrrechten nicht gibt – was natürlich kein Grund sein sollte, die Anspruchsrechte aufzugeben. Aber es bedeutet zunächst mal, dass man Anspruchsrechte nicht in demselben Sinn als allgemein verstehen kann, wie man Abwehrrechte als universal verstehen kann. Da kommen dann einfach kulturelle, ökonomische Bedingtheiten mit ins Spiel, die man dann beachten muss. Wieviel Bildung man als genügend betrachtet oder auch wann eine Gesundheitsversorgung als angemessen gilt, das hängt immer auch von kulturellen Besonderheiten und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sind in „Pacem in terris“ 1963 von Johannes XXIII. die Menschenrechte erstmals positiv genannt worden. Auch bei Johannes Paul II. und Benedikt XVI. spielen sie eine wichtige Rolle, die ja eigentlich das Naturrecht wieder stärker in den Vordergrund gestellt haben. Kann man damit wieder vom Primat des göttlichen Rechts sprechen und was ist von der Zukunft zu erwarten?
Es ist eine sehr interessante Entwicklung, dass wir auch in der aktuellen Diskussion der Menschenrechte wieder eine stärkere Orientierung an Gedankenfiguren finden, die man in einem ganz weiten Sinn naturrechtlich nennen kann. Denn die Grundidee der Menschenrechte im 18. und 19. Jahrhundert war die Idee von Abwehrrechten, die allein auf das Freiheitsprinzip gegründet sind. Sie dienten dazu, Freiheitssphären voneinander abzugrenzen. Aber wenn wir über Anspruchsrechte reden, kommen wir an irgendeinem Punkt nicht mehr weiter. Anspruchsrechte müssen sich letzten Endes auf menschlichen Grundbedürfnissen gründen. Und an der Stelle muss man dann über die menschliche Natur sprechen. In dem Sinn greifen auch aktuelle Diskussionen über Menschenrechte und ihre Begründung auf die menschliche Natur zurück. Diesen Gedanken finden wir schon im scholastischen Naturrecht in Form der natürlichen Neigungen bei Thomas von Aquin zum Beispiel. Man kann also nicht einfach davon ausgehen, dass es einen Kontrast zwischen Naturrecht und der Menschenrechtsidee gibt.
Aber Naturrecht und Freiheit wurden von der Kirche anders verstanden als in den klassischen Rechtsphilosophien?
Ein zentraler Punkt, wenn es um die Eingangsfrage geht, warum hat sich die Kirche so lange mit den Menschenrechten schwer getan, ist das unterschiedliche Freiheitsverständnis. In der liberalen Tradition der Menschenrechte von Locke bis Kant und darüber hinaus im 19. Jahrhundert war Freiheit zunächst als Selbstzweck verstanden. Das war wohl auch der Punkt, an dem sich eine Spannung aufgetan hat, weil im katholischen Verständnis Freiheit nicht ein Selbstzweck des Lebens ist, sondern nochmals unterschieden wird zwischen dem guten und dem schlechten Gebrauch der Freiheit. Das gibt es aber in den Theorien wie denen von Locke oder Kant nicht. Es entspricht ja einem Prinzip des klassischen Liberalismus, dass der Freiheitsgebrauch nicht noch einmal aus einer übergeordneten Perspektive bewertet wird, sondern dass das Recht einfach nur dazu dient, Freiheitsräume zu schaffen, in denen dann ein Freiheitsgebrauch stattfinden kann. Das war wahrscheinlich auch ein Problem aus der Perspektive der Kirche, weil sie eben immer davon ausging, dass Freiheitsausübungen bewertbar sind nach guten und schlechten, heilbringenden und unheilvollen Freiheitsausübungen. Bei Kant ist das in der Moralphilosophie auch noch präsent, aber seine Rechtsphilosophie hält er von dem Gedanken frei. Diese Trennung hat die Kirche meinem Eindruck nach vielfach erst im 20. Jahrhundert nachvollzogen. Aber die Philosophie wäre nicht die Philosophie, wenn das nicht auch immer wieder neu diskutiert werden würde.