Unsere Gesellschaft wird nachweislich immer pluralistischer. Verschiedene Milieus begegnen sich nicht mehr oder kommen kaum noch miteinander in Berührung. Auch weil sich viele Menschen nur noch in sozialen Echokammern bewegen. Für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft ist eine solche Entwicklung Gift, denn mit schwindendem Verständnis für andere schwindet auch die Solidarität.
Persönlichkeitsentwicklung stärken
Ich bin fest davon überzeugt: Mit einer Dienstpflicht für alle jungen Menschen nach der Schulzeit – etwa bei sozialen Diensten, beim THW, bei der Feuerwehr, bei der Bundeswehr und auch im europäischen Ausland – könnte man dieser unguten Entwicklung entgegentreten und gleichzeitig die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen stärken.
Wer sich für die Gemeinschaft engagiert, schaut nicht nur über den eigenen Tellerrand, sondern erwirbt zugleich ein hohes Maß an Sozialkompetenz. So kommt eine Studie der Wiener Wirtschaftsuniversität von 2019 zu dem Schluss, dass es bei den Zivildienstleistenden zu einer Veränderung in ihrer Einstellung zu sozialen und gesellschaftspolitischen Fragen sowie zu einem besseren Verständnis für Probleme benachteiligter Gruppen kommt. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2020 zieht sogar das Fazit: Eine gute Einbindung in die breite Gesellschaft erhöht die Krisenresilienz einer Gesellschaft.
Konfrontation mit dem richtigen Leben
Natürlich werde ich bei der Diskussion um eine Dienstpflicht immer wieder auf die Corona-Krise angesprochen und auf die Entbehrungen, die gerade die junge Generation auf sich nehmen musste. Mit Blick auf den Ausfall von Schulunterricht, auf heruntergefahrene Lehrpläne an den Universitäten und auf massive Defizite insbesondere im Bereich gemeinsamer und damit sozial wertvoller Aktivitäten im nicht-digitalen Raum kann man dem nur zustimmen. Hier gibt es ohne Zweifel noch viele Lehren zu ziehen.
Aber all das ist kein Argument gegen eine Dienstpflicht, denn eine solche wäre eine Riesenchance, in einem inzwischen durch und durch verschulten Leben einmal einen Schnitt zu setzen. Zudem würden die jungen Menschen ihre sozialen Blasen verlassen und mitten ins Leben treten. Das Akademikerkind träfe auf das Kind, das im Brennpunktviertel lebt. Jugendliche aus allen Schichten kämen zusammen und würden lernen, etwas zusammen zu schaffen. Sie würden neue Kompetenzen erlernen und Fähigkeiten an sich entdecken, die sich bereichernd auf ihren weiteren Lebenslauf auswirken können.
Bildung durch Gesellschaftsjahr
Ich bin fest davon überzeugt: Unbedingte Individualität und Unabhängigkeit bescheren dem Einzelnen weder ein zufriedeneres Leben noch der Gesellschaft eine größere Zukunftsfähigkeit. Ein Gesellschaftsjahr setzt den schulischen Bildungsweg auf der Erfahrungsebene fort, um auf diese Weise zu mehr Gemeinschaftssinn und eigener innerer Stabilität beizutragen. Davon würde genau die Generation profitieren, die in ein paar Jahren das Ruder von uns übernimmt.
Der Vorteil eines verpflichtenden gegenüber einem freiwilligen Gesellschaftsjahres besteht darin, dass wir nur so auch diejenigen Jugendlichen erreichen können, die von einem solchem Dienst besonders profitieren könnten. Etwa junge Menschen, die sich wegen ihres sozialen Umfeldes oder auch aufgrund ihres Migrationshintergrundes ausgeschlossen fühlen und mit unserer Gesellschaft hadern. Für sie könnte ein solcher, anfangs ungeliebter Dienst zu einem besonderen Gewinn werden.
Freiheit ist mehr als individuelle Freizügigkeit
Unser freiheitliches Menschenbild wird durch einen solchen Pflichtdienst keineswegs in Frage gestellt. Denn zur Freiheit gehört auch die Verantwortung, und zwar für sich wie für andere. Freiheit bedeutet also mehr als individuelle Freizügigkeit und Freiwilligkeit.
Die Freiheit des Einzelnen können wir auf Dauer nur im Rahmen von gesellschaftlichem Frieden und demokratischen Werten gewährleisten. Beidem kann ein allgemeines Gesellschaftsjahr dienen.
Der Autor ist seit 2009 CDU-Bundestagsabgeordneter und vertritt dort den Wahlkreis Paderborn. Seit 2022 ist er stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU. Der Katholik ist zudem Vorsitzender der Programm- und Grundsatzkommission der Partei, die das neue Grundsatzprogramm der CDU erarbeitet.
In der nächsten Ausgabe wird die Debatte mit einem Beitrag, der die Dienstpflicht kritisch sieht, fortgesetzt werden.