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Venezuela steht vor dem Kollaps

Die Regierung schlägt Proteste blutig nieder, doch zeigt der Aufstand kein Zeichen von Ermüdung – Entscheidend wird die Haltung des Militärs. Von Marcela Vélez-Plickert
Foto: dpa | Ein Mitglied der Widerstandsbewegung betet in Caracas auf einer venezolanischen Fahne für den 17-jährigen Neomar, der Anfang Juni bei Zusammenstößen zwischen der Polizei und Demonstranten ums Leben kam.

Venezuela befindet sich in einer Art Krieg: Die Regierung des sozialistischen Präsidenten Nicolás Maduro führt Krieg gegen oppositionelle Bürger. Das einst zu den reichsten Ländern Südamerikas zählende Ölland, das zu einem der ärmsten Länder des Kontinents verkommen ist, wird seit zweieinhalb Monaten von heftigen Protesten erschüttert. Seit Beginn der Demonstrationen sind bei Zusammenstößen mit der Polizei und mit Milizen schon annähernd 70 Menschen getötet und Hunderte verletzt worden, darunter vor allem Jugendliche und Studenten.

Auf den Straßen von Caracas gibt es fast täglich Schlachtszenen, wenn die Polizei Demonstrationszüge mit Wasserwerfern und Tränengasgranaten stoppt und vermummte junge Demonstranten Steine werfen. Polizisten auf Motorrädern machen Jagd auf Protestler und traktieren sie mit Schlagstöcken. Die Nationalgarde setzt schweres Gerät, gepanzerte Fahrzeuge und Hubschrauber ein, von denen sie das Reizgas abwirft. Mehr als 3 000 Demonstranten wurden verhaftet. Einige berichten von Folter, etwa 1 350 werden in Gefängnissen gehalten, in denen seit längerem etwa hundert politische Gefangene sitzen.

Die „Revolution“, die 1999 mit der Wahl des Sozialisten Hugo Chávez begann, dem nach seinem Tod 2013 Maduro nachfolgte, ist in ihre blutige Niedergangsphase eingetreten. Maduro klammert sich an die Macht. Unklar ist, ob er sich halten kann. Er bedient sich der Polizeikräfte und der „bolivarischen Milizen“, die zum „Schutz der Revolution“ gegründet wurden. Bislang hält das Militär zu Maduro. Es gab nur einzelne Fälle von Offizieren, die offenbar aus Protest die Truppe verlassen haben. Das Militär genießt Privilegien und eine bessere Versorgung als der Rest der Bevölkerung. Damit sichert sich Maduro ab. Zudem operieren im Militär zahlreiche Berater aus dem kommunistischen Kuba.

Auslöser der Proteste Anfang April war der Versuch des Präsidenten, das von der Opposition dominierte Parlament zu entmachten. Nun bereitet er eine Verfassungsversammlung vor. Solange diese tagt, sollen die überfälligen Regionalwahlen nicht stattfinden. „Verfassungsversammlung oder Krieg“, sagte Maduro in einer TV-Ansprache. Laut einer Umfrage sind 70 Prozent der Venezolaner gegen die Versammlung. Aus der Regierung war schon zu hören, dass die Verfassungsreform dazu genutzt werden solle, die Opposition „auszulöschen“. Gegner der Regierung werden wahlweise als „Kriminelle“, „Terroristen“ oder „Faschisten“ beschimpft.

Ein Riss in der Front der Sozialisten hat sich indes aufgetan, seit die bekannte Sozialistin Luisa Ortega, die das Amt der Generalstaatsanwältin bekleidet und eine loyale Chávez-Anhängerin war, öffentlich die Maduro-Regierung kritisiert. Die Einberufung der Verfassungsversammlung sei selbst ein Verfassungsbruch, sagt sie. Ihr Einspruch beim Obersten Gericht wurde von den roten Richtern umgehend abgewiesen. Die Regierung reagierte mit der Ankündigung, sie wolle die „psychische Gesundheit“ von Ortega prüfen, die Zeichen von „Demenz“ zeige. Ihr Ehemann Germán Ferrer, der Abgeordneter der regierenden PSUV ist, spricht von einem möglichen Bruch.

Den Bürgern bleibt nicht viel mehr, als ihre Wut über die sich rapide verschlechternde Situation auf Demonstrationen herauszubrüllen. Ein Teil der Proteste endet auch in gewaltsamen Ausbrüchen, wenn sie von Polizeibarrikaden gestoppt werden. Dies erleichtert es der Regierung, die Proteste insgesamt als illegitim abzutun. Hauptgrund der Unzufriedenheit großer Teile der Bevölkerung ist die katastrophale Versorgungslage. Seit die Einnahmen der staatlichen Ölgesellschaft PDVSA nicht mehr so üppig sprudeln, ist Venezuela praktisch pleite. Die Wirtschaft ist innerhalb von drei Jahren um fast 30 Prozent geschrumpft. Die Importe mussten drastisch eingeschränkt werden.

In den Geschäften mit staatlich festgesetzten Preisen gibt es fast nichts mehr zu kaufen. Die Inflationsrate ist drei-, vielleicht schon vierstellig. Laut IWF-Prognose könnte sie nächstes Jahr bei einer Fortsetzung des Kurses 2 000 Prozent erreichen. Millionen von Venezolanern können sich kaum noch das tägliche Essen leisten. Die Bevölkerung magert rapide ab. In den Krankenhäusern fehlt es an Medizin. Vor kurzem veröffentlichte das Gesundheitsministerium zum ersten Mal seit drei Jahren eine Bilanz für 2015 und 2016 mit herzzerreißenden Zahlen. Demnach ist die Kindersterblichkeit um ein Drittel gestiegen. Im vergangenen Jahr starben 11 466 neugeborene Kinder an Lungenentzündungen. Die Zahl der Frauen, die nach der Geburt starben, ist um 66 Prozent gestiegen. Laut Mariela Herrera vom Venezolanischen Gesundheitsobservatorium ist der Mangel an Arzneimitteln und Unterernährung die Ursache. Die Regierung reagierte auf die Veröffentlichung der Statistik, indem sie die erst seit wenigen Monaten amtierende Gesundheitsministerin Antonieta Caporale, die das Schweigen gebrochen hatte, umgehend entlassen hat.

Vor kurzem wurde sogar das Rote Kreuz in Caracas von der Polizei mit Tränengas attackiert. Daraufhin spannte die Organisation ein riesiges Transparent über ihr Hauptquartier mit der Erinnerung, dass sie „eine unparteiische Institution“ sei, die von internationalem Recht in Konflikten geschützt werde. Die Ortskirche hat sich klar auf die Seite der protestierenden Bürger gestellt. Bei einem Besuch im Vatikan versuchten die venezolanischen Bischöfe Papst Franziskus davon zu überzeugen, seine „neutrale“ Position in dem Konflikt aufzugeben, die in Wahrheit der Regierung nutzt. Wirklich entscheidend für den Ausgang des Bürgerkriegs wird indes die Haltung des Militärs sein. Wenn es nicht mehr hinter Maduro steht, muss er abtreten.

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