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Leitartikel: Verfrühte Nachrufe

Apokalyptischer Alarmismus hat in Europa immer Konjunktur. Wer schreibt, das vereinte Europa stehe unmittelbar vor dem Zerfall, denn die gerade aktuelle Krise werde tödlich sein, findet stets Aufmerksamkeit. Von Stephan Baier
Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs
Foto: Olivier Matthys (AP) | dpatopbilder - Der Präsident von Zypern, Nicos Anastasiades (erste Reihe, l), und der französische Präsident Emmanuel Macron (erste Reihe, 2.v.l) unterhalten sich am 14.12.2017 in Brüssel (Belgien) während eines ...

Apokalyptischer Alarmismus hat in Europa immer Konjunktur. Wer schreibt, das vereinte Europa stehe unmittelbar vor dem Zerfall, denn die gerade aktuelle Krise werde tödlich sein, findet stets Aufmerksamkeit. Das war schon so, als das vereinte Europa nur neun und später 15 Mitglieder hatte, als etwa Briten und Dänen über Fangquoten in der Nordsee stritten. Weder daran noch an der Finanzkrise, an der Rettung Griechenlands oder an BSE ist die Einigung Europas gescheitert. Sie scheitert auch nicht am Brexit oder an Interessenskonflikten in der Frage der Flüchtlingsverteilung. Der EU-Gipfel, der am Freitag zu Ende ging, hat das bewiesen: Die EU schafft die Vielfalt an Interessen und Standpunkten nicht ab, sondern bietet die Bühne, sie friedlich auszutauschen, Kompromisse auszuloten und gemeinsame Lösungen zu suchen. Das ist gut so, denn niemand will einen EU-Zentralstaat, in dem von Brüssel aus dekretiert wird, was europaweit zu geschehen hat. Ein zentralistisches und gleichmacherisches Europa wäre kein europäisches Europa, denn die Vielfalt ist ein Wesenselement dieses Erdteils.

Europa ist ein Mosaik, kein Cocktail. Darum besteht die Kunst des Europäischen darin, unter Achtung der Verschiedenheiten die gemeinsamen Interessen zu bündeln. Kommissionspräsident Juncker, dem gewieften Pragmatiker, ist das wieder einmal gelungen: Angesichts der unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten in der Frage der Flüchtlingsquoten hat er sich mit den Visegrad-Staaten auf eine Zahlung von 36 Millionen Euro zur Sicherung der Außengrenzen verständigt. Jenseits der finanziellen Solidarität hat Juncker damit bewiesen, dass sogar in der Migrationspolitik nur in der Frage der Quoten Uneinigkeit besteht – in allem anderen aber Einigkeit. Alle sind für eine gemeinschaftliche Sicherung der Außengrenzen, für den Kampf gegen Schlepperei und illegale Migration, für eine enge Zusammenarbeit mit Afrika.

Darüber hinaus hat der jüngste EU-Gipfel gezeigt, dass der Dissens in einer Frage die EU keineswegs davon abhält, bei anderen Themen geschlossen voranzugehen: Trotz aller Wehklagen der Wirtschaft und vieler Intrigen des Kreml haben sich die 28 EU-Staaten auf eine Verlängerung der Russland-Sanktionen geeinigt. Einigkeit besteht auch darin, an der bisherigen Position Europas zur Jerusalem-Frage festzuhalten. Und während viele über die Krise Europas lamentieren, ist in der militärischen Kooperation ein Durchbruch gelungen: 25 von 28 EU-Mitglieder haben mit „PESCO“ eine europäische Verteidigungsarchitektur geschaffen, die ihnen nicht nur Milliarden Euro sparen wird, sondern Europa mittelfristig sicherheitspolitisch selbstständig machen kann. Nicht beteiligt sind nur Großbritannien, Dänemark und Malta. Das sollte jenen zu denken geben, die den Osteuropäern vorwerfen, Europa nur als Bankomat zu sehen. Im Gegenteil: Gerade die lange von Moskau fremdbestimmten Nationen Mittel- und Osteuropas sehen das vereinte Europa als Frage ihrer Sicherheit. Ein Blick auf Georgien und die Ukraine zeigt, wie akut die Bedrohungen für jene Staaten sind, die keiner solchen Gemeinschaft angehören. Auch das ist typisch Europa: 25 Staaten gehen bei der sicherheitspolitischen Integration voran; niemand wird dazu gezwungen. Für das vereinte Europa gilt, was Mark Twain einst formulierte: Die Berichte über seinen Tod sind stark übertrieben.

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