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„Ich bin froh, dass die Zeiten ideologischer Grabenkämpfe überwunden sind“

Umweltschutz, „Ökologie des Menschen“, Leihmutterschaft und Flüchtlingspolitik – Grünen-Frontfrau Katrin Göring-Eckardt im „Tagespost“-Gespräch. Von Stefan Rehder
Foto: Weber | Von der Flüchtlingspolitik Angela Merkels sei „nur noch die Fassade stehengeblieben“, findet die Spitzenkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt.
Frau Göring-Eckardt, wer sich durch das Wahlprogramm der Grünen für die Bundestagswahl arbeitet, kann den Eindruck bekommen, der Planet stehe kurz vor dem Exitus: Erderwärmung, Quecksilber in der Luft, Pestizide in den Böden, Plastikmüll in den Meeren, Medikamentenrückstände im Trinkwasser. Und schon in der Einleitung heißt es nahezu apokalyptisch: „Wir sind die erste Generation, die die Auswirkungen der Klimakrise spürt – und die letzte, die etwas dagegen tun kann.“ Ist das für eine Partei, die für sich in Anspruch nimmt, Populismus abzulehnen, nicht ziemlich populistisch oder macht am Nordpol demnächst tatsächlich ein Freibad auf?

„Die Erde, unser Haus, scheint sich immer mehr in eine unermessliche Mülldeponie zu verwandeln“ (Laudato si', Nr. 21) – wer mit wachen Augen auf die Welt blickt, muss nicht erst das Grüne Programm lesen, um zu begreifen, dass die Erde und die Menschheit existenziell bedroht sind. Auch in der Enzyklika von Papst Franziskus ist da viel Zutreffendes zur Bedrohung unseres Planeten durch die Klimakrise und das Handeln der Menschheit zu lesen. Wir Grüne sagen, was ist – und machen Vorschläge, wie die schlimmsten Auswirkungen noch abzuwenden sind. Grüne Antworten sind weder unterkomplex, noch versprechen wir einfache, bequeme Lösungen – Populismus hat mir da noch keiner vorgeworfen. Und ja, wenn das arktische Meereis stark abschmilzt, wird das dramatische Auswirkungen haben. Ganze Landstriche werden überflutet und die Bewohner werden flüchten müssen.

Laut Ihrem Wahlprogramm streben Sie einen tiefgreifenden Umbau von Wirtschaft und Landwirtschaft an: Zur Einhaltung der Klimaschutzziele bis 2020 wollen Sie vollständig aus der Kohle aussteigen. Bereits 2030 soll Strom nur noch aus erneuerbaren Energien gewonnen werden; ab 2030 sollen nur noch abgasfreie Autos neu zugelassen werden. Bis 2050 soll selbst die Industrie ihren Bedarf vollständig aus erneuerbaren Energieträgern beziehen. Heißt im Umkehrschluss: Sie wollen Deutschland mit Windrädern und Tankstellen für E-Autos pflastern!

Wir wollen die politische Kraft sein, die Mut zu Veränderungen hat, um unser Land voranzubringen. Herausforderungen löst nicht, wer bloß über Erfolge von gestern redet und sich darauf ausruht oder Angst vor dem Wandel hat. Damit schadet man nicht nur der Umwelt, sondern auch der Gesundheit der Menschen und dem Wirtschaftsstandort Deutschland. Außerdem: Was finden Sie schöner? Den Ausblick auf den rauchenden Schornstein eines klimaschädlichen Kohlekraftwerks oder eines Atomkraftwerkes oder auf Windräder, die klimafreundlichen Strom erzeugen?

In Ihrem „Zehn-Punkte-Plan für Grünes Regieren“ wollen Sie den „Reichtum unserer Tier- und Pflanzenwelt erhalten, anstatt Bienen und Vogelsterben zu verursachen“. Einverstanden. Aber warum tun Sie nichts, um den Reichtum der Menschenwelt zu erhalten? Oder anders formuliert: Wenn Sie Tierschutzstandards per Gesetz durchsetzen und die industrielle Massentierhaltung abschaffen wollen, warum dann nicht auch ein Gesetz, das den massenhaften vorgeburtlichen Kindstötungen ein Ende macht?

Unser Einsatz für den Erhalt der Biodiversität ist kein Selbstzweck, weil wir Schmetterlinge so schön finden. Sondern er dient ja gerade den Menschen. Nehmen Sie das Beispiel Saatgut. Monopolinteressen einzelner Agrarkonzerne bedrohen den Handel von bäuerlichem Saatgut und verschärfen das Problem, dass weltweit 800 Millionen Menschen hungern. Wenn KleinbäuerInnen verschiedene Sorten frei austauschen und kostenlos aussähen können, sichert das ihre Unabhängigkeit, ihre Ernte und so ihr Überleben. Da Sie aber nach dem Schwangerschaftkonfliktgesetz fragen: Das Leben eines ungeborenen Kindes kann nicht gegen den Willen der Mutter geschützt werden. Ein ausnahmsloses Abtreibungsverbot drängt Frauen nur in die Illegalität und erfüllt seinen Zweck nicht. Es geht ja vielmehr um Beratung und Unterstützung von werdenden Eltern, die sich in einer existenziellen Entscheidungssituation befinden. Deshalb halte ich die deutsche Regelung für tragfähig, die Abtreibung verbietet, aber unter bestimmten Bedingungen straffrei lässt – um das Lebensrecht des Kindes zu schützen wie auch dem Selbstbestimmungsrecht der Frau gerecht zu werden.

Der inzwischen emeritierte Papst Benedikt XVI. hat bei seiner viel beachteten Rede vor dem Bundestag 2011 – wie die Grünen auch – den Umgang des Menschen mit der Natur beklagt. So ähnlich, dass er sich genötigt sah, hinzuzufügen, dass er selbstverständlich keine Propaganda für eine bestimmte politische Partei mache. War das Balsam auf die Seele einer Partei, die Kardinal Joseph Höffner einst als für Katholiken unwählbar bezeichnet hatte?

Gestern wie heute gibt es Christinnen und Christen bei den Grünen und Grüne, die aus christlicher Überzeugung heraus handeln. Ich bin froh, dass die Zeiten ideologischer Grabenkämpfe überwunden sind, auf beiden Seiten. Und auch die katholische Kirche wird anerkennen, dass es längst keine verfestigten Milieus mehr gibt, wo sich KirchgängerInnen auf eine bestimmte politische Partei abonnieren ließen. ChristInnen wie Grüne treibt die Sorge um die Natur, um Gerechtigkeit, um Frieden um. In der ökologischen Frage gibt es viele Gemeinsamkeiten. Bei anderen Themen natürlich auch Unterschiede.

Apropos Unterschiede: Benedikt XVI. betonte im Bundestag auch: Es gebe auch eine „Ökologie des Menschen“. Auch der Mensch habe „eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann“. Der Mensch mache sich, so der damalige Papst weiter, nicht selbst. „Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat.“ Nun setzt sich Ihre Partei sehr dafür ein, dass Menschen ihr Geschlecht selbst wählen können. Was also übersieht der emeritierte Papst?

Ich teile diese grundsätzlich naturrechtliche Überzeugung von Papst Benedikt vor allem dort nicht, wo sie gewissenhafte persönliche Entscheidungen klein hält oder Entwicklung negiert. Auch Freiheit und Selbstbestimmung gehören zum Menschsein dazu und machen den Menschen ja gerade zu dem, der er ist. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit ist ein Grundrecht. Dazu gehört auch, sie dem Geschlecht zuzuordnen, das der psychischen und physischen Konstitution entspricht.

Der Bundestag hat die „Ehe für Alle“ beschlossen. Ihre Partei hat das 2001 in Kraft getretene Lebenspartnerschaftsgesetz auf den Weg gebracht, mit dem gleichgeschlechtliche Partnerschaften der Ehe rechtlich und steuerrechtlich gleichgestellt wurden. Wenn dank der „Ehe für Alle“ jetzt auch gleichgeschlechtliche Paare Kinder adoptieren können, wird Bündnis 90/Die Grünen dann für die Einführung der in Deutschland verbotenen Eizellspende und der Leihmutterschaft eintreten?

Die „Ehe für Alle“ nimmt niemandem etwas weg. Sie nimmt ernst, dass gleichgeschlechtliche Paare eine dauerhafte Bindung eingehen, die sich nicht von der heterosexueller unterscheidet. Sind Kinder in Partnerschaften, muss selbstverständlich sein, dass sich beide Elternteile um die Kinder sorgen und Verantwortung übernehmen. Das ist vom Kind her gedacht, denn Kinder haben ein Recht auf Fürsorge und Sicherheit. Niemand hat jedoch ein Recht auf ein Kind. Ihre Reihung Ehe, Adoption, Eizellspende ist daher überhaupt nicht zwangsläufig.

Aber laufen Eizellspende und Leihmutterschaft nicht auf eine Kommerzialisierung des Körpers heraus, die obendrein für die Betroffenen mit gesundheitlichen Risiken und dem der Ausbeutung verbunden sind? Anders gefragt: Wie feministisch ist es, zwei Männern zu erlauben, Frauen für das Abtreten ihrer Eizellen und Austragen eines Kindes zu bezahlen?

Leihmutterschaft und Eizellspende haben eine ethische Dimension, können eine Frage der Gerechtigkeit oder Ausbeutung sein und psychosoziale Auswirkungen haben.

Und welche Position vertreten die Grünen?

Darüber wird in der Gesellschaft wie auch innerhalb der Grünen offen diskutiert.

Anders als die CSU haben Bündnis 90/Die Grünen Angela Merkels Flüchtlingspolitik Applaus gespendet. Ihr Parteifreund Winfried Kretschmann, ein Katholik, sagte gar, er bete täglich dafür, dass die Kanzlerin gesund bleibe. Wie zufrieden sind Sie heute mit der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin?

Anfangs haben wir die humanitäre Geste der Kanzlerin unterstützt. Leider ist von der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel nur noch die Fassade stehengeblieben. Den barmherzigen, zuvorkommenden und freundlichen Umgang mit Flüchtlingen gibt es nur noch als Attitüde. Darunter hat die Bundesregierung das Asylrecht fast komplett ausgehöhlt. Das sehen Sie auch im aggressiven Umgang des Bundesinnenministers gegen das Kirchenasyl. Es reicht nicht aus, Flüchtlinge ins Land zu holen, dann aber zu wenig für deren Integration zu machen.

Ihr erklärtes Ziel ist es, drittstärkste Kraft zu werden und wieder mitzuregieren. Angenommen, Sie erreichen das erste Ziel und eine schwarz-grüne Koalition wäre rechnerisch möglich. Wie wollen Sie sich dann mit CDU und CSU auf eine gemeinsame Flüchtlingspolitik einigen?

Bis zur Wahl kämpfen wir für Grüne Themen. Über Regierungskonstellationen reden wir nach der Wahl. Und wenn es da etwas zu bereden gibt, dann tun wir das auf der Grundlage von zehn Punkten, die wir als Partei beschlossen haben und die klar sagen: Wir müssen die Integration zum Erfolg führen und Flüchtlinge schützen. Das ist nicht nur eine Frage der Barmherzigkeit. Flüchtlinge haben Rechte, das wissen auch CDU und CSU.

In Stuttgart regiert eine schwarz-grüne, in Kiel eine schwarz-grün-gelbe Koalition. Sind das akzeptable Modelle für den Bund oder bevorzugen Sie, wenn es für Rot-Grün dort nicht reicht, eine rot-rot-grüne Koalition, wie in Ihrer thüringischen Heimat?

Demokratische Parteien müssen untereinander gesprächsfähig sein. Deshalb reden wir mit allen – aber wir reden nicht über alles. Nur mit der AfD ist es ausgeschlossen, weil die mit uns nicht das Menschenbild des Grundgesetzes teilen. Ich kämpfe für starke Grüne. Denn Grün macht den Unterschied.




Zur Person

Eigentlich wollte Katrin Göring-Eckardt, geboren 1966 im thüringischen Friedrichsroda und aufgewachsen in Gotha, wo ihre Eltern eine Tanzschule besaßen, Deutschlehrerin werden. Doch eine Lehrerin riet der Protestantin, die sich in der DDR in der Jungen Gemeinde engagierte: „Du kannst nicht Lehrerin werden. Das eine glauben und den Kindern ein Leben lang das andere erzählen, das schaffst du nicht.“ Nach dem Abitur 1984 begann sie ein Theologiestudium in Leipzig, das sie jedoch nicht abschloss. Politisiert wurde die frühere Bundestagsvizepräsidentin eigenen Angaben zufolge 1986 durch den GAU in Tschernobyl. Den Weg zu den Grünen fand sie über die in der Wendezeit gegründeten Bewegungen „Demokratischer Aufbruch“, „Demokratie Jetzt“ sowie „Bündnis 90“, einem Zusammenschluss von Bürgerbewegungen und Oppositionsgruppen, der mit der im Westen gegründeten Partei „Die Grünen“ 1993 zu „Bündnis 90/Die Grünen“ fusionierte. Von 2009 bis 2013 fungierte die Mutter zweier Söhne, die innerhalb ihrer Partei als Wertkonservative gilt, zudem als Präses der Synode der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) DT/reh

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