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Geschichte voller Irrtümer

In der Werbeverbot-Debatte werden ständig falsche Tatsachen behauptet – Eine Analyse. Von Stefan Rehder
Pk Ärztin Hänel
Foto: dpa | Sie löste die Debatte aus: Die Ärztin Kristina Hänel hatte auf ihrer Homepage darauf hingewiesen, dass sie Abtreibungen durchführt.

Dieses Jahr beginnt der Winter schon am 21. Dezember. Wenn auch erst um 23:22 Uhr (MEZ). Bis dahin hat die Große Koalition Zeit, will sie – wie angekündigt – noch „im Herbst“ eine gemeinsame Lösung für den Streit um den § 219a StGB präsentieren. Theoretisch jedenfalls. In Wirklichkeit ist die Zeit dafür längst verstrichen. Zu lange haben Union und SPD tatenlos zugesehen, wie sich parlamentarische und außerparlamentarische Opposition in dieser Frage radikalisierten. Zu wenig haben sie transparent zu machen gesucht, wie die Abtreibungslobby, ihr nahestehende Politiker und mit ihr sympathisierende Medien der Gesellschaft eine Phantomdiskussion aufzwangen, die sich, von dem, worum es eigentlich geht, längst entkoppelt hat. Dass die „Süddeutsche Zeitung“ Anfang der Woche ein „Pro & Contra“ zweier Redakteure druckte, die jeweils die Ansicht verfochten, der § 219a müsse aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden und miteinander nur darüber „stritten“, ob die am Ende stehende Abstimmung im Parlament eine Gewissensentscheidung sei, welche die Aufhebung des Fraktionszwangs erfordere, illustriert anschaulich, wie rücksichtslos – ob grob vorsätzlich oder bloß aus uninformierter Dummheit sei dahingestellt – Entscheidendes ausgeblendet oder gar falsch dargestellt wird. Die vier häufigsten Irrtümer:

1. Information statt Werbung: Natürlich kann man die Meinung vertreten, Gynäkologen, die vorgeburtliche Kindstötungen durchführen, sollten dafür genauso werben dürfen, wie Urologen, die Nierensteine zertrümmern. Insbesondere könnte eine solche Meinung von jenen vertreten werden, die ohnehin behaupten, bei einer Abtreibung werde gar kein Kind vor der Geburt getötet, sondern bloß „Schwangerschaftsgewebe“ beseitigt. Bisher hat allerdings noch niemand den Mut aufgebracht, eine solche Meinung zu vertreten. Behauptet wird stattdessen, ein Arzt, der auf seiner Homepage anzeigt, dass er Abtreibungen vornehme, informiere lediglich. Weil aber § 219a StGB dies (zu Unrecht) unter Strafe stelle, müsse er gestrichen werden.

Nur ist das gar keine Meinung, sondern ein Irrtum. Wäre es anders, müssten auch die „Gelben Seiten“ des Analogzeitalters als Informationsmedium wie das Telefonbuch und nicht als Werbemedium betrachtet werden, in dem Anzeigen – selbst wenn sie nur aus Kontaktdaten bestehen – kostenpflichtig sind. Ärzte, die auf ihrer Homepage anzeigen, dass sie Abtreibungen durchführen oder Nierensteine entfernen, bewerben dies zugleich.

Während der Gesetzgeber Letzteres erlaubt, verbietet er dies bei vorgeburtlichen Kindstötungen. Der Grund: Nach geltender Rechtsprechung hat der Staat dafür Sorge zu tragen, dass Abtreibungen nicht als normale medizinische Leistungen betrachtet werden können.

2. Ärzte brauchen Rechtssicherheit: Argumentiert wird, Ärzte bräuchten Gewissheit, was sie tun können und was sie lassen müssen, um nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Weil das der § 219a nicht leiste, müsse er gestrichen oder wenigstens reformiert werden. Das ist falsch. Richtig ist: Der § 219a StGB sorgt für Rechtssicherheit. Er verbietet Ärzten, öffentlich anzuzeigen, dass sie vorgeburtliche Kindstötungen durchführen.

Und dies so klar und eindeutig, dass auch der Vorsitzende Richter am Landgericht Gießen, der Kritik an der Rechtsnorm übte, die von der Erstinstanz zu einer Geldstrafe von 6 000 Euro verurteilte Ärztin Kristina Hänel aufforderte, das Urteil wie „einen Ehrentitel“ zu tragen und sich gezwungen sah, ihre Berufung zurückweisen und das ergangene Urteil zu bestätigen.

3. Ärzte werden kriminalisiert: Behauptet wird ferner, Ärzte, die Abtreibungen vornähmen, würden kriminalisiert. Deshalb müsse der § 219a StGB gestrichen werden. Auch das ist falsch. Der § 219a StGB bedroht nicht Ärzte mit Strafe, die abtreiben, sondern solche, die damit öffentlich hausieren gehen. Richtig ist: Der § 219a StGB schützt Ärzte, die abtreiben, davor, kriminalisiert zu werden, indem er ihnen verbietet, das öffentlich anzuzeigen.

Richtig ist allerdings auch: Viele Menschen vertreten die Ansicht, Ärzte, die ungeborene Kinder im Mutterleib töten, handelten auch dann moralisch verwerflich, wenn sie sich dabei im Rahmen des gesetzlich Erlaubten bewegen. Der Prominenteste ist Papst Franziskus. Juristisch fällt dies in den Bereich zulässiger Meinungsäußerungen, die hinzunehmen sind. Abtreibungsgegner müssen schließlich auch ertragen, dass eine Ärztin, die Abtreibungen vornimmt und wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen das Werbeverbot für Abtreibungen verurteilt wurde, von anderen mit Preisen und Auszeichnungen überhäuft und als Heldin gefeiert wird.

4. Frauen finden keine Ärzte, die abtreiben: Argumentiert wird, weil Ärzte fürchten, kriminalisiert zu werden, wären immer weniger Ärzte bereit, Abtreibungen durchzuführen. Frauen hätten es deshalb immer schwerer, Ärzte zu finden, die eine Abtreibung vornähmen. Das ist falsch. Staatliche Beratungsstellungen händigen abtreibungswilligen Frauen zusammen mit dem Schein, der ihnen eine straffreie Abtreibung ermöglicht, auch Listen mit den Ärzten aus, die solche vornehmen.

Einige Bundesländer (zum Beispiel Berlin, Hamburg und Schleswig-Holstein) veröffentlichen diese zudem im Internet. Auch stieg die Zahl der dem Statistischen Bundesamt gemeldeten vorgeburtlichen Kindstötungen 2017 von 98 721 (2016) um 2 488 auf 101 209.

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