Es gibt im Westen immer noch viele, und sogar viele Christen, die sich in einer sonderbaren Täter-Opfer-Umkehr ergehen: Da wirddie ukrainische Regierung, die – wie es ihre Pflicht ist – das Land verteidigt, aufgefordert, das Leid der Ukrainer doch nun durch Kapitulation zu beenden; da werden Staaten, die der Ukraine Nothilfe leisten, der tragischen Verlängerung des Kriegs bezichtigt; da werden Publizisten, die Opfer und Aggressor beim Namen nennen, der Kriegstreiberei beschuldigt. Verglichen damit kommt jener Mann, der die Invasion befohlen und das souveräne Nachbarland überfallen hat, in manchen Postings, Leserbriefen und Kommentaren geradezu gut weg: Putins Motive, Ängste und Beweggründe werden vielfach verständnisvoll wiedergegeben.
Wo ist das vollmundige „Nie wieder!"?
Wo ist eigentlich das vollmundige „Nie wieder!“ geblieben? Wollten wir nach der leidvollen Erfahrung des 20. Jahrhunderts nicht jedem Tyrannen beim Versuch des Völkermords tapfer in den Arm fallen? Ja, es geht um Völkermord. Da wären Christen gut beraten, die Taten Putins und die Worte seines Patriarchen auf die Waagschale ihrer moralischen Prinzipien zu legen. Katholiken sollten sich die Zeit nehmen, die Analysen der leidgeprüften katholischen Bischöfe der Ukraine zu studieren, statt in sicherer Distanz via Youtube Verschwörungstheorien zu inhalieren. Die unierten Ukrainer gingen im 20. Jahrhundert einen Kreuzweg. Ihnen jetzt wohlwollend zuzuhören, ist das Mindeste, was der Vatikan und die Katholiken dieser Märtyrerkirche schulden.
Wer den ukrainischen Bischöfen nicht glauben will, dass es in diesem Krieg um die Vernichtung ihres Landes und seiner Identität geht, wer sogar die Gräueltaten der russischen Armee in den besetzten Gebieten nicht sehen will, der sollte doch Putins Außenminister Sergej Lawrow zuhören. Er hat sich ganz offen zur geplanten Versklavung der Ukraine bekannt.
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